WM-Qualifikation:Willie eint "Belgium"

Lesezeit: 3 min

Wer kommt in meine Arme? Daniel Van Buyten (rechts), Trainer Marc Wilmots (Foto: AFP)

Formidable Kraft aus Multikultur: Mit einer beeindruckenden Generation aus Talenten und Trainer Marc Wilmots qualifiziert sich Belgien für die Fußball-WM. Die Mannschaft entfacht ein Nationalgefühl in dem gespaltenen Land - und der Ministerpräsident tanzt durch die Kabine.

Von Javier Cáceres

Der dunkle Zwirn des Vorgesetzten Marc Wilmots war vom Regen in Kroatien eh schon ruiniert, da wollte Kevin De Bruyne nicht mehr zurückstehen und das eine oder andere, möglichst perlende Kaltgetränk über den Kopf des belgischen Nationaltrainers schütten. Nur umsetzen konnte er seinen Plan nicht, andere waren ihm zuvorgekommen. "Ich habe die Bank abgesucht und auch alle möglichen Flaschen gefunden", berichtete der frühere Bremer, "doch die waren alle schon leer."

Und so konnte De Bruyne sich nur noch einem anderen Akt der Ekstase anschließen: Wilmots in die Luft zu werfen, wozu man mittlerweile ganz gut durchtrainiert sein muss. Wilmots, 44, kann sich beim Herrenausstatter nicht mehr unbekümmert in der Abteilung "Slim Fit" bedienen. Doch auch jenen, die sich an "Williiieee" einen Bruch hoben, war es die reine Wonne: Die erste WM-Qualifikation Belgiens seit 2002 war allemal einen Muskelkater wert.

Die Tickets für die Reise nach Brasilien 2014 lösten die Belgier am Freitagabend mit einem 2:1-Sieg in Zagreb. Der erst 20 Jahre alte, aber schon als Teenager von Real Madrid umschwärmte Stürmer Romelu Lukaku (15./38.) hatte zwei Konter abgeschlossen und die Kroaten derart entnervt, dass Tausende noch vor der Halbzeit das Stadion verließen. Sie verpassten sterile Angriffsbemühungen, eine Großchance des Bayern-Stürmers Mario Mandzukic und einen etwas schmeichelhaften Gegentreffer von Nico Krancjar (83.).

Mehr als nur Kampfschweine

Sogar der frühere Nationalcoach Miroslav Blazevic suchte nach 40 Minuten das Weite - und verließ die Ehrentribüne angewidert und enttäuscht. Das war nachvollziehbar: Die Kroaten waren die Antithese einer beeindruckend reifen belgischen Mannschaft gewesen, das Gegenteil einer charakterstarken, taktisch klugen, variabel und bestimmt auftretenden, stets siegesgewissen Elf. Das Belgien der Gegenwart ist aber mehr als nur das Ebenbild des Kampfschwein-Willis, als den die Schalker Fans ihren Wilmots in Erinnerung haben. Es ist der Inbegriff der Mannschaft, die vielleicht den Sport nicht auf eine neue Evolutionsstufe hebt, die aber - auch bei einer WM - erst mal geschlagen sein will.

Das hätte man vor 18 Monaten nicht gedacht. Damals schien der Tiefpunkt des einst ruhmreichen belgischen Fußballs nah zu sein, der bei den Weltmeisterschaften 1986 und 2002 an den späteren Siegern Argentinien und Brasilien gescheitert war. Bei einem Länderspiel der Belgier schalteten sich nach offiziellen Angaben nur noch 300.000 Menschen ein. So viele dürften am Freitag allein auf den bestens frequentierten Public-Viewing-Veranstaltungen gewesen sein.

Derart sichtbare nationale Euphorie ist aber nicht nur vor dem Hintergrund der nunmehr überwundenen, fußballerischen Dekadenz bemerkenswert. Sondern auch vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses. So viele bekennende Belgier, wie Wilmots einer ist, gibt es nicht. Um den stets latenten Sprachenstreit zu umgehen, steht "Belgium" auf den Fanschals, rufen die Fans in der Kurve ebenfalls "Belgium" - auf Englisch.

Belgien ist ja ein seltsames Gebilde, mit widerstrebenden flämischen und wallonischen Landesteilen, einer beachtlichen deutschen Minderheit - und der Hauptstadt Brüssel, in der 80 Prozent der Einwohner Einwanderer zweiter, wenn nicht gar erster Generation sind.

Umso emphatischer spricht Ministerpräsident Elio Di Rupo, der in Zagreb durch die Kabine tanzen durfte, von der Nationalelf längst als "großer Quell des Stolzes". In seinen Augen rundete die WM-Qualifikation eine Woche ab, in der eines der führenden Politmagazine des großen französischen Nachbarn, Le Nouvel Observateur, auf seiner Titelseite "den belgischen Genius" feierte - und ein Physiker den Nobelpreis abräumte.

Belgien in Brasilien, das heißt in den Augen der Belgier auch: Belgien ist wieder da! Und zwar mit einer beeindruckenden Generation von Talenten, die schon seit einiger Zeit auf dem Transfermarkt für beeindruckende Umsätze sorgen - und aus ihrer Multikultur eine formidable Kraft schöpft. Die größte Integrationsfigur ist Kapitän Vincent Kompany, dessen Vater aus dem Kongo stammt. Gut ein Dutzend Spieler sind in der Premier League tätig, Thomas Vermaelen (FC Arsenal) und Kompany (Manchester City) sind in ihren Vereinen sogar Kapitän.

Internationaler Fußball
:18-jähriger Belgier rettet Manchester United

Adnan Januzaj erzielt bei seinem Startelfdebüt für United zwei Tore und wird zum jüngsten Torschützen in der Klubhistorie. Real Madrid dreht ein Spiel mit zwei Toren in der Nachspielzeit. Routinier Francesco Totti erzielt zwei Treffer beim deutlichen Sieg des AS Rom in Mailand.

Lukaku, der zweimalige Torschütze vom Freitagabend, ist beim FC Everton ein ähnlich großer Publikumsliebling wie der Afro-Frisurenträger Marouane Fellaini bei Manchester United oder Eden Hazard beim FC Chelsea. Aber auch Afrofrisur-Kollege Witsel (Zenit St. Petersburg) oder Torwart Thibaut Courtois (Atlético Madrid) sind längst über den Status von Geheimtipps hinaus. "Wir haben eine Stabilität entwickelt, die hyperwichtig ist", sagte FC Bayern-Profi Daniel Van Buyten, der als Doyen die Abwehr zusammenhält, jüngst dem Magazin Sport: "Wir sind in einem System, in einem Diskurs, in einer Lebensart groß geworden."

Sorgen bereitet nur die unklare Lage von Kevin De Bruyne beim FC Chelsea. Trainer José Mourinho hat ihn in die zweite Mannschaft verbannt - aus Gründen, die niemandem richtig einsichtig sind. De Bruynes ehemaliger Klub Werder Bremen hat bereits signalisiert, ihm im Winter erneut Asyl gewähren zu wollen, gleiches gilt aber auch für finanziell besser gestellte Klubs wie Leverkusen, Schalke 04 und Wolfsburg.

Der Betroffene selbst hielt sich am Wochenende zurück. "Ich habe mir die Frage, ob ich im Januar beim FC Chelsea bleibe, noch nicht gestellt, also habe ich dazu auch nichts zu sagen", sagte er. Glücklich war er darüber, in Zagreb bewiesen zu haben, dass er sich nicht hängen lässt - trotz Mourinho. "Keine Frage, mir fehlt ein bisschen der Rhythmus. Aber selbst wenn wir davon ausgehen würden, dass ich eine schlechte Saison vor mir habe, würde das nicht heißen, dass ich eine schlechte WM spiele", unterstrich er. Sein Trainer Wilmots dachte nicht ganz so weit voraus, am Dienstag geht es gegen Wales: "Wir haben jetzt 25 Punkte von 30. Jetzt will ich 28."

© SZ vom 14.10.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: