WM-Historie (5): 1966:"Kein Tor, Hans!"

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Das wohl umstrittenste Tor der Fußballgeschichte fiel im WM-Endspiel 1966 in Wembley. Ein Engländer hat es Deutschlands damaligem Torwart Tilkowski mittlerweile gestanden, dass der Ball nicht drin war - doch der Zweifel bleibt. Und das ist gut so.

Christian Zaschke

Der Zweifel. Eine wunderbar kräftige Macht ist er. Es gibt ihn in Variationen, zum Beispiel so: Da ist ein Lehrer, der seinen Hut an jedem Tag an den gleichen Haken hängt, und irgendwann ist da ein Schüler, der den Hut jeden Tag einen Haken weiter hängt. Das verwirrt den Lehrer, er weiß doch, wo er seinen Hut hinhängt. Das heißt: Weiß er es? Er zweifelt an dem, was er tut und was er sieht, er zweifelt schließlich an sich selbst, obwohl es doch nur eine Kleinigkeit ist, ein Hut, der einen Haken weiter hängt. Der Zweifel hat diese Kraft, weil er die Ordnung durcheinander bringt.

Der wohl umstrittenste Moment der Fußballhistorie: Englands Geoffrey Hurst (li.) erzielt gegen Deutschlands Keeper Hans Tilkowski das legendäre "Wembley-Tor". (Foto: AP)

Wenn man das nun ein wenig größer denkt, wenn man also das WM-Finale von 1966 nimmt und in diesem Finale das 3:2 ansieht, gelangt man natürlich zur immer gleichen Frage: War der Ball drin oder nicht? Vielleicht ja, vielleicht nein, dieses Tor wird immer von Zweifeln begleitet sein, was bedeutet: Es gibt keine Eindeutigkeit, die Ordnung ist nicht intakt. Je nach Gemüt kann man das schrecklich finden oder ganz wunderbar, weil aus diesem Zweifel gute Geschichten entstehen. Würde man heute in Deutschland noch immer eine so klare Vorstellung von diesem Endspiel haben, wenn es den Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Tores nicht gäbe?

Als in der 101. Minute des Endspiels der Ball gegen die Latte knallte und von dort auf den Boden prallte, jubelten die englischen Spieler. Schiedsrichter Gottfried Dienst war sich nicht sicher, ob der Ball hinter der Torlinie aufgekommen war, also fragte er seinen Linienrichter Tofik Bachramow. Der entschied auf Tor, und damit begann die Geschichte des Zweifels. Freilich nicht für die Engländer, die mehrheitlich sagen: Der Ball war drin.

Aber die Deutschen begannen zu zweifeln, es nagte an ihnen, es fraß sich in sie hinein, der Zweifel bohrte sich in die Fußballgeschichtsschreibung und steckt bis heute tief in allen deutschen Darstellungen des Turniers von 1966. Oft wird der Zweifel übertrieben bis zur schlichten Gegenbehauptung: Der Ball war nicht drin. Ach, wäre man doch Heinrich Lübke, ehemals Bundespräsident, vor allen Dingen aber ein Mann, der den Zweifel nicht kannte und den man sich deshalb als glücklichen Menschen denken kann. Lübke sagte nach dem Turnier: "Ich habe im Fernsehen genau gesehen, wie der Ball im Netz zappelte."

Im Netz zappelte - das ist von grotesker Schönheit. Die meisten Menschen im Stadion und vor den Fernsehgeräten sahen dies: Alan Ball spielte auf Geoffrey Hurst, der die Kugel in Richtung Tor drosch. Der Ball prallte an die Unterkante der Latte, dann auf den Boden und von dort zurück ins Feld. Der deutsche Verteidiger Wolfgang Weber beförderte den Ball mit dem Kopf ins Aus, sicher ist sicher. Das heißt: Der Ball war nicht einmal in der Nähe des Netzes; dass er darin gezappelt haben soll, ist eine exklusive Ansicht des Bundespräsidenten. Aber sie passt bestens zu diesem Tor, über das es so viele widersprüchliche Aussagen gibt. Drin?

Wickert sagt Ja

Man kann ein ganzes Buch damit füllen, auf sehr schöne Weise haben das die Autoren Gerhard Henschel und Günther Willen getan, deren Werk "Drin oder Linie? - Alles über das dritte Tor" tatsächlich alles Wichtige und vor allen Dingen alles Unwichtige über den Treffer berichtet. Besonders verdienstvoll ist eine Umfrage der Autoren, die Interessantes zutage fördert. Ulrich Wickert und Egon Bahr zum Beispiel antworten auf die Frage, ob der Ball nun drin war: "Ja." Der Verleger Klaus Wagenbach bemerkt: "Drin ist immer gut."

Der Feinschmecker Wolfram Siebeck pflegt ein eher gering ausgeprägtes Interesse am Fußball, dennoch bereichert er die Umfrage von Henschel und Willen um folgende Zeilen: "Bei dem dritten Tor kann es sich nur um die kleine Gartenpforte an der Südseite des Grundstücks handeln. Ich habe es vom Fenster aus gesehen und - gut, dass sie danach fragen! - es war tatsächlich drin. Ist es immer noch."

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Nicht jeder fand und findet das Thema so lustig. In den vielen Büchern, die sich rückblickend mit dem Tor beschäftigen, wird nur scheinbar beiläufig darauf hingewiesen, dass es sich bei Schiedsrichter Gottfried Dienst um einen Postboten handelte und bei Linienrichter Tofik Bachramow um einen Physiklehrer. Bachramow wurde überdies als "Pauker" bezeichnet, hier und da findet sich auch ein Hinweis auf seinen Schnauzbart. Klar, was das soll: Dienst und Bachramow sollen diskreditiert werden, dem Leser wird suggeriert, dass der Postler und der Pauker Deutschland den Sieg geklaut haben.

Adrett in schwarz und weiß: Die deutsche Elf im WM-Finale 1966. Nur Tilkowski spielte ganz in dunkel. (Foto: sz.sonstige)

Die Sportler selbst haben das Tor besser verkraftet als manche Chronisten, wenn auch in einigen der Zweifel haften blieb; andere begegneten diesem nagenden Einfluss, indem sie beschlossen, dass der Ball nicht drin gewesen sei. Im Juli 2005 wurde der damalige Nationaltorhüter Hans Tilkowski 70 Jahre alt. Sämtliche Würdigungen seiner Karriere konzentrierten sich darauf, dass er das Wembley-Tor kassiert habe. Tilkowski sagte auf die Frage, ob es ein Tor war, stets: Nein, nicht drin. Aber konnte er das überhaupt sehen? Wohl nicht, doch Hans Tilkowski bezog seine Sicherheit aus einem Geständnis.

Für das Magazin der Süddeutschen Zeitung moderierte der Journalist Freddie Röckenhaus ein Gespräch zwischen Gordon Banks und Hans Tilkowski, den beiden Torhütern des Finales, das am 17. Juni 1994 erschien. Banks erzählt, wie dick sein damaliger Mitspieler Alan Ball inzwischen geworden sei, "so dick kann ich die Backen gar nicht aufblasen, wie Alan aussieht. Wie ein Fesselballon. Unmöglich!" Tilkowski plaudert dann noch ein bisschen, bis er plötzlich sagt: "Apropos Alan Ball. Weißt du noch, als wir damals in dieser Show von Thomas Gottschalk waren? Das war '81, glaube ich. Da haben wir doch noch Fußballtennis gespielt. Und nachts um zwei, als wir im Hotel noch einen getrunken haben, ist euer Alan Ball vor mir auf die Knie gefallen und hat die Hände gefaltet und gesagt: Hans, it was no goal!" Hans, es war kein Tor. Eigentlich eine aufwühlende Szene, aber Banks bleibt ganz ruhig. Er sagt: "Jaja, das leidige dritte Tor."

Tilkowskis Ruhm

Nun könnte man meinen, Tilkowski sei besonders verbittert, da ihm gegenüber sogar ein Engländer zugegeben hat, dass der Ball nicht drin war. Dem ist aber nicht so, im Laufe des Gesprächs preisen Banks und Tilkowski die Freundschaft, die zwischen beiden Teams entstanden ist, und später erzählt Tilkowski noch etwas Erstaunliches. Er sagt zu Banks: "Weißt du übrigens, mit wem ich oft verwechselt werde? Rate mal!" Banks weiß es nicht, und Tilkowski sagt: "Mit Paul Newman. Nicht schlecht, oder?"

In der Tat nicht schlecht, insbesondere, da Paul Newman nicht aussieht wie Hans Tilkowski. Nicht schlecht auch Gordon Banks' Antwort, der nun seinerseits im Scherz auf eine Ähnlichkeit zu Robert Redford hätte verweisen können, der aber sehr trocken antwortet: "Ich werde selten verwechselt. Und wenn, dann mit Mike Tyson." Wie gelassen die beiden alten Männer fast 30 Jahre nach dem Endspiel miteinander umgingen, hätte all den Diskussionen viel an Wucht nehmen können.

Tat es aber nicht. 1995 erschien eine Studie von Wissenschaftlern aus Oxford. Wissenschaftler finden fortwährend interessante Dinge heraus, und die Gruppe aus Oxford hatte nun herausgefunden, dass der Ball die Linie nicht in vollem Umfang überquert habe. Den Aufwand hätte man sich freilich sparen können; die Diskussionen in Deutschland flammten zwar neu auf (es gab sogar eine Meldung in den Tagesthemen), am Inhalt änderte sich jedoch nichts. Wer vorher geglaubt hatte, der Ball sei nicht drin gewesen, der glaubte es jetzt noch mehr; das Wissen derer, die den Ball im Tor gesehen hatten, wurde nicht erschüttert. Der Zweifel ist für immer mit diesem Tor verwachsen.

Es gehört zum Wesen dieses Tores, dass man nicht sagen kann, ob der Ball hinter Linie war. Das Schöne ist aber, dass man immer wieder danach fragen kann, und sofort gibt es eine so feine wie sinnlose Diskussion. Hans Tilkowski wurde so oft gefragt, ob der Ball drin war, dass er gern sagt: "Wenn ich für die Antwort Geld verlangt hätte, wäre ich ein reicher Mann."

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