WM 2010: Presseschau:"Ein Haufen Trümmer"

Lesezeit: 4 min

Die Presseschau "indirekter freistoss" befasst sich heute mit Frankreichs blamablem Aus, der bevorstehenden Prüfung für Joachim Löws Spielidee und der Kritik an den Schiedsrichtern.

"Schiffbruch: ein Unentschieden, zwei Niederlagen und nur ein mickriges Tor. Frankreich verabschiedet sich mit einer unterirdischen Darbietung von dieser WM", jammert Betrand Métayer ( leparisien.fr). "Die Meuterei vom Sonntag hatte zwar Konsequenzen nach sich gezogen - beim Anstoß befanden sich lediglich fünf Überlebende aus dem Mexiko-Spiel auf dem Rasen - doch nicht ein einziger von ihnen zeigte die richtige Einstellung. Eine trotz ihrer begrenzten Fähigkeiten frech aufspielende südafrikanische Mannschaft traf auf eine Équipe Tricolore, die ohne Lust, ohne Ideen, ohne Gegenwehr auftrat." (...) Laurent Blanc, designierter Nachfolger von Raymond Domenech, werde in wenigen Tagen einen Haufen Trümmer übernehmen. "Eine wahrhafte Verschwendung."

Raymond Domenech bei seinem letzten Auftritt als französischer Nationaltrainer. (Foto: rtr)

Martin Beils ( rp-online) beobachtet, wie sehr die französische Politik darum bemüht ist, den in den vergangenen Tagen entstandenen Schaden in Grenzen zu halten: "Sarkozy erteilte Gesundheitsministerin Roselyne Bachelot-Narquin den Auftrag, die Hauptdarsteller der Schmierenkomödie zu einem Krisengipfel einzubestellen. In den vergangenen Tagen war Bachelot einige Male im Quartier in Knysnia zu Gast, saß bei den Spielen der Blauen auf der Tribüne und schoss fleißig mit der Handykamera Erinnerungsfotos. Die Anhängerin im rosa Pullover verwandelt sich damit in die Chefaufpasserin für Trainer Raymond Domenech, Franck Ribéry und die anderen schwierigen Charaktere." Man denke auch bereits über Konsequenzen nach dem Turnier nach: "'Wir werden nach der WM eine Untersuchung einleiten über alles, was hier passiert ist.' Eigentlich sei eine WM Angelegenheit des Fußball-Verbandes, 'aber die Regierung muss eingreifen, wenn der Ruf Frankreichs auf dem Spiel steht, das ist hier der Fall.'"

Auch Sascha Lehnartz ( Welt) beobachtet, wie sich die Staatsmänner in Frankreich um das Ansehen ihres Landes sorgen: "Kaum waren Anelkas Worte in der Welt, meldete sich Präsident Sarkozy aus Moskau: Sollten diese Worte so gefallen seien, seien sie 'vollkommen inakzeptabel'. Der Präsident des französischen Fußballverbandes, Jean-Pierre Escalettes, bestellte Anelka ein und forderte ihn auf, sich zu entschuldigen. Dies lehnte dieser ab - mit der Begründung, er habe die in der Presse erschienenen Worte so nicht gesagt. Daraufhin suspendierte der Verband Anelka, teilte aber irritierenderweise zugleich mit, der Verbalrüpel habe die Nachricht von seinem Ausschluss 'sehr würdevoll' aufgenommen. Die Bildungsministerin Valérie Pecresse warf im Laufe des Tages die Frage auf, wie man eigentlich von jungen Leuten noch erwarten wolle, ihre Lehrer zu respektieren, wenn sie Anelka sähen, der seinen Trainer beleidigt. Der sozialistische Politiker Jérôme Cahuzac bot derweil eine gewagte politische Interpretation des Werteverfalls im Fußballermilieu: der Präsident sei schuld, denn das Klima, das in der Nationalmannschaft herrsche, sei jenes, das Nicolas Sarkozy im ganzen Land hervorgerufen habe: 'Es ist der Individualismus, der Egoismus, das Jeder-für-sich, und der einzige Maßstab des menschlichen Erfolges ist der Scheck, den jeder am Ende des Monats kassiert.'"

Nur die Neue Zürcher Zeitung weiß etwas Gutes am Ausscheiden der streikfreudigen Franzosen zu finden: "Auch Sponsoren haben gelernt, dass sie in den Ausstand treten dürfen. So hat die Schnellimbisskette Quick ihre TV-Werbung mit dem nach Hause geschickten Anelka eingestellt. Auch Crédit Agricole hat Konsequenzen gezogen und stellt die Werbesendungen mit den Buhmännern der Nation ein. Bloss die Detailhandelskette Carrefour lässt sich nicht beirren und hält am Engagement zur Unterstützung der Nationalmannschaft fest; negative Publizität ist für das Unternehmen ohnehin nichts Neues."

"Wenn die deutsche Nationalelf an diesem Mittwoch an Ghana scheitert, dann bitte nicht auf französisch. Der Nachbar gibt in Südafrika ein Bild ab, das an Peinlichkeit nicht mehr zu überbieten ist", schreibt Peter Hess ( FAZ).

WM 2010: Artisten am Ball
:Ballerinas und Tanzbären

Bei einer Fußball-Weltmeisterschaft wollen die Fans spektakuläre Tore sehen. Oft ergeben sich aus den Grätschen und Schwalben der Spieler aber die attraktiveren Showeinlagen. Die schönsten Flugnummern in Bildern.

Endet mit dem möglichen historischen WM-Aus in Südafrika Ära Joachim Löw? Michael Horeni ( FAZ) schließt einen Abschied des Bundestrainers nicht aus: "Bisher gibt es keinen belastbaren Beweis dafür, dass Löw das Vertragsangebot, das ihm unabhängig vom Verlauf des Turniers von DFB-Präsident Theo Zwanziger ausgesprochen worden ist, nach dem schwächsten Ergebnis in der deutschen WM-Geschichte annehmen würde. Löw schweigt, aber in seinem Umfeld würde mit einem Rücktritt gerechnet"

WM 2010: Deutsche Nationalmannschaft
:Ghana liegt nicht auf dem Balkan - aber fast

Kommt Deutschland weiter? Ein Pro und Contra in Bildern mit Elfmeterschützen, demokratischen Chefs und schnellen Bällen bis 308 km/h.

Christof Kneer und Philipp Selldorf

"Traurig" fände Peter Unfried ( taz) ein Ausscheiden der Nationalmannschaft, denn ausgerechnet der klassisch-verkrustete Verbandsfußball habe etwas angestoßen, was in vielen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik gern hinausgeschoben werde: "Er hat sich geändert, weil er sich ändern musste, um eine Zukunft zu haben. Er müht sich um Nachhaltigkeit, er ist international und progressiv. Das ist die große Leistung des Bundestrainers Joachim Löw und seines Vorgängers Klinsmann."

Stefan Hermanns ( Tagesspiegel) spielt derweil mögliche Szenarien für die Zeit nach der Gruppenphase durch: "Taktieren gehört zum Geschäft, und selten schien die Notwendigkeit so groß zu sein wie bei der WM in Südafrika. Bedingt durch die anfängliche Schwäche der Favoriten Spanien, Italien und England ist der gedachte Turnierplan ein wenig in Unordnung geraten. Schon im Achtelfinale könnte es mehrere Begegnungen geben, die eines Endspiels würdig wären. Geborene Gruppenerste müssen froh sein, sich überhaupt für die nächste Runde zu qualifizieren - sollten sie es schaffen, droht ihnen gleich im Achtelfinale ein fetter Brocken." Der "fette Brocken" heißt im Falle Deutschlands England. Hermanns hat die Lösung: "Wie minus mal minus plus ergibt, so könnte sich auch in diesem Fall das Schlechte zum Guten wenden: Auch wenn beide Zweiter werden, verhindern Deutsche und Engländer ihr allzu frühes Rendezvous."

Europa bangt, Südamerika brilliert

"Während das alte Europa um den Verbleib seiner Favoriten im Turnier bangt, stellen südamerikanische Vertreter WM-Rekorde auf. Sie haben von ihren ersten elf Spielen neun gewonnen, alle fünf Teilnehmer können das Achtelfinale erreichen - das gab es noch nie", stellt Frank Hellmann ( Tagesspiegel) fest und analysiert die Erfolgsgeheimnisse des Quintetts Brasilien, Argentien, Paraguay, Uruguay, Chile, das sich durch das Mühsal einer achtzehn Spiele umfassenden Qualifikationsgruppe gekämpft hat.

WM 2010: Deutsche Fußball-Mode
:Treffsicher gekleidet

Auf der Fanmeile und im Stadion kommt es auch auf die passende Kleidung an. Zumindest hier liegen die deutschen Fußball-Anhänger ganz weit vorne. Ein echter Klassiker ist in diesem Jahr wieder ziemlich oft zu sehen.

Matti Lieske ( FR) findet kritische Worte für den Schiedsrichterobmann der Fifa José Maria Garcia-Aranda. Es sei kein Wunder, dass der Spanier die Schiedsrichter bei dieser WM "exquisit" finde. Lange Zeit war Garcia-Aranda selbst Referee, und ein ziemlich umstrittener dazu. In seiner Person beschreibe sich das Dilemma der Fifa umfassend: "Wenn es um die Unparteiischen im Fußball geht, ist das Bock-Gärtner-Prinzip Gesetz."

Bernd Heynemann, 151-maliger Bundesliga-Schiedsrichter und während der EM 1996 in England und der WM 1998 in Frankreich im Einsatz, nennt den Einsatz von Referees kleiner Verbände eine sportpolitische Entscheidung: "Europas Schiedsrichter pfeifen Woche für Woche auf Bundesliga-Niveau, Eddy Maillet (der im Spiel Chile gegen Honduras zahlreiche Fehlentscheidungen traf) von den Seychellen eher auf Regionalliga-Level. Nach Leistungskriterien hätten wir 25 Schiedsrichter aus Europa, sechs aus Südamerika und vielleicht einen aus Asien." Gefälligkeiten an die kleinen Verbände, bestätigt Heynemann im Interview mit Zeit Online: "Es ist einfach eine politische Entscheidung innerhalb der Fifa. Damit sollen Machtstrukturen und Wahlen abgesichert werden."

Schlechtes Fernsehen

"Nicht der Fußball ist schlecht, sondern das Fernsehen, das ihn zeigt", beschwert sich Daniel Raecke ( sportal.de). Zur mangelnden Urteilsfähigkeit der Journalisten hat er fünf Thesen aufgestellt: "Es gibt falsche Vorstellungen davon, was eine WM und was Fußball ist. Es gibt nur drei verschiedene Maßstäbe für Mannschaften. Nationale Stereotypen überlagern jedes Urteil. Und, fünftens, es gibt kein Verständnis von Taktik."

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: