WM 2010: Presseschau:Die Selbstgefälligkeit der Fifa

Lesezeit: 6 min

Die Presse diskutiert die Machtkämpfe um Bundestrainer Joachim Löw, das 4-2-3-1 als bleibenden Trend und die hohle Rhetorik der Fifa. Außerdem: Der neue Nabel der Fußballwelt.

"Indirekter Freistoss" ist die Presseschau für den kritischen Fußballfreund. Fast täglich sammelt, zitiert und kommentiert der Indirekte Freistoss die schönsten und wichtigsten Textausschnitte und Meinungen aus der deutschen, während der WM auch aus der internationalen Presse. Täglich auf sueddeutsche.de und www.indirekter-freistoss.de .

WM 2010: Stimmen zum Finale
:"Es ist kein Traum"

Ganz Spanien ist stolz auf seine Mannschaft, Siegtorschütze Andrés Iniesta dankt ganz Spanien - und dem deutschen Tintenfisch. Stimmen aus dem Stadion und der internationalen Presse.

Michael Horeni (FAZ) hat bei der Siegerehrung ganz genau auf Joachim Löw und Theo Zwanziger geachtet: "Die Distanz, die der Bundestrainer zwischen sich und dem DFB-Präsidenten aufrechterhalten wollte, könnte natürlich auch rein gar nichts mit den möglichen Vertragsverhandlungen zu tun haben, die bald nach der WM anstehen sollen, wie es sich der erste Mann im Deutschen Fußball-Bund erhofft. Vielleicht wollte der vergrippte Löw den Präsidenten auch einfach nur nicht anstecken." Doch auch Horeni nimmt die personelle Situation ernst: "Löw geht es auch darum, 'Visionen' umzusetzen, die ihn nun zum größten Trainerliebling des Landes gemacht haben. Visionen haben auch mit Personen zu tun. Das größte verbandsinterne Konfliktfeld in den vergangenen Jahren war dabei immer die Zusammenarbeit der Nationalelf mit Matthias Sammer. Der DFB-Sportdirektor war nicht bei einem einzigen Spiel in Südafrika, eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Nationalmannschaftsführung ist nicht zu erkennen. Lob über die Arbeit war bisher von Sammer auch nicht zu vernehmen. Konflikte gibt es indes verlässlich wegen der Zuständigkeiten für die U 21, für die sich Löw wie Sammer verantwortlich fühlen wollen. Auch die kooperative und auf Verantwortungsverteilung im Team setzende Führungsstrategie des Bundestrainers passt nicht so recht zu den Vorstellungen Sammers, der den Trainer als oberste Autorität qua Amt verstanden wissen will."

Jonathan Wilson zieht in der Online-Ausgabe des Guardian ein taktisches Fazit der Weltmeisterschaft und befasst sich auch mit der deutschen Elf. Wenig überraschend stellt er fest: "Dies war das Turnier des 4-2-3-1. Diese Entwicklung hat sich im Vereinsfußball bereits seit einiger Zeit angedeutet, obwohl das 4-2-3-1 dort bereits durch Varianten des 4-3-3 verdrängt wird. Der internationale Fußball hängt dem allerdings noch hinterher, und dieses Turnier hat den Trend bestätigt, der sich bei der Europameisterschaft 2008 abgezeichnet hat." Wilson unterscheidet jedoch zwischen der offensiven Ausrichtung Spaniens und der tendenziell defensiven Organisation der deutschen Nationalmannschaft. Bei der letzteren würden lediglich die erzielten Tore das eigentlich defensive System kaschieren: "Es ist verblüffend, wie viel Lob über ihren vermeintlich frischen Ansatz ausgeschüttet wurde, nur weil sie in drei Spielen jeweils vier Tore erzielt haben. Dieses Deutschland war ausgezeichnet im Konter, und das Zusammenspiel der vorderen Vier, d.h. Miroslav Klose, Thomas Müller, Lukas Podolski und Mesut Özil teilweise atemberaubend - aber es war reagierender Fußball."

Echte Schönheit

In der taz applaudiert Peter Unfried der spanischen Nationalmannschaft, denn Spanien habe den Fußball verändert. "Und es hat dadurch unser Denken und unser Sprechen über Fußball verändert. Sieht man mal von Franz Beckenbauer ab, der Spaniens Fußball 'langweilig' findet und sich damit selbst abgehängt hat. (...) Das Neue besteht darin, dass Spaniens Schönheit echt ist. Alles ist auf dem Platz. Sicher wird man sagen können, dass selbst die in drei Vierteln des Platzes oft perfekten Spanier im vordersten Viertel kaum einmal perfekt sind. Wären sie es, wären sie übermenschlich. Und genau das sind sie eben nicht. Ausgerechnet die jahrzehntelang auf Individualität gepolten Spanier haben mit der Verabschiedung von Raul eine kollektive Ästhetik des Zusammenspielens perfektioniert, die all ihre scheinbaren und echten Nachteile kompensiert oder gar in Vorteile verwandelt. Die Überlegenheit ihres Fußballs drückt sich nicht in hohen Siegen aus, sondern darin, dass er seine kollektive Kraft mit zunehmender Spieldauer entfaltet und durchsetzt."

Sven Goldmann (Tagesspiegel) bestätigt die Einschätzung der Kollegen: "Der Trend zur Doppelsechs, zu zwei zentralen Mittelfeldspielern auf einer Höhe, zugleich mit Abwehr- und Angriffsaufgaben bedacht - das ist die taktische Botschaft dieser Weltmeisterschaft. So spielen es die Bayern in der Bundesliga, und so haben es fast alle Mannschaften bei der WM gespielt, mit Nuancen in der Ausführung, wie sie durch die individuellen Begabungen der Spieler vorgegeben sind. Die Holländer Mark van Bommel und Nigel de Jong interpretieren die Doppelsechs defensiver als Schweinsteiger und Khedira. Ungefähr in der Mitte liegen die Spanier Xabi Alonso und Sergio Busquets, die im Verein mit den Zauberern Xavi und Iniesta über deren in Barcelona erprobtes Tiki-Taka den schlauen Stürmer David Villa in Szene setzen." Aber Goldmann zeigt noch einen weiteren Trend auf, nämlich den zu "neuen Abenteurern": "Anders als 2002 in Fernost und 2006 in Deutschland hat Südafrika begnadete Solisten gesehen, die sich hinweghoben über nivellierte Stile. Das System muss nicht der Feind des Individualisten sein, im Optimalfall bringt es seine Vorzüge erst richtig zur Geltung. Was wären die defensiven Uruguayer ohne ihren Freigeist Diego Forlán gewesen, was die überraschend zurückhaltenden Holländer ohne die Tore von Wesley Sneijder?"

WM 2010: Elf des Turniers
:Tintenfisch und Tangotänzer

Ein Krake aus Ghana und ein Alchimist aus den Niederlanden, ein zum besten WM-Spieler gekürter Uruguayer und drei Deutsche, die als Entdeckungen dieses Turniers gelten dürfen. Die Elf der WM 2010.

Javier Cáceres und Christian Zaschke

Wie ein Bundesligaverein aus dem Studium der Weltmeisterschaft Erkenntnisse gewinnen kann, erläutert der Trainer des FSV Mainz 05, Thomas Tuchel, im Interview mit Daniel Meuren (FAZ): "Seit Beginn der K.o.-Runde haben wir alle Spiele aufgenommen und suchen uns beispielhaft Bilder heraus fürs Videostudium mit der Mannschaft." Man versuche hiermit besonders Laufwege zu dokumentieren, denn "wenn die deutsche Mannschaft im 4-2-3-1-System spielt, sind viele gute Sachen dabei, die wir unseren Spielern demonstrieren können. Oder das Verteidigerverhalten von Brasilien mit seinen überragenden Innenverteidigern. Bei Mexiko das Passspiel, das Spielen und Gehen. Ballzirkulation, Freilaufverhalten oder die Angriffsauslösung bei Spanien, wenn die durch die Mitte das Tor bedrohen und spät erst auf die Außen gehen." Bezüglich der Verwunderung über den Einzug von vier südamerikanischen Teams ins Viertelfinale warnt Tuchel vor europäischem Übermut: "Ich finde es schon immer etwas gefährlich, dass wir Europäer uns für den Nabel der Fußballwelt halten und unsere Champions League immer so erhöhen zum Non-plus-Ultra. Ich persönlich nehme mich da mit rein: Ich weiß extrem wenig über den Vereinsfußball in Südamerika und ich weiß sehr wenig über Asien, die ja beide auch eigene Champions-League-Wettbewerbe spielen und dann im Weltpokal zeigen, dass sie absolut konkurrenzfähig sind."

Momentaufnahmen der WM 2010
:So schön, so traurig

Von neuen Sommermärchen, Schiedsrichter-Pannen, der Wembley-Revanche, des Bundestrainers blauer Pullover, Maradonas Tränen und einem Propheten namens Paul: die besten Bilder rund um die Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika.

Daniel Theweleit (taz) steht der Zukunft des afrikanischen Fußballs zwiespältig gegenüber: "Afrika lebt - wie so oft - in der Zukunft, die irgendwie besser werden soll. Oft wird sie schlechter. In diesem Fall gibt es aber tatsächlich ein paar Argumente für eine bessere Zukunft. Ghana wurde 2009 U20-Weltmeister, die Elfenbeinküste erreichte das Viertelfinale der Olympischen Spiele von Peking, Nigeria gewann 2007 die U17-WM und stand 2008 im olympischen Finale. (...) Was Afrika braucht, sind nicht unbedingt mehr talentierte Fußballer, sondern ein Nationalmannschaftsklima, in dem junge Spieler sich vernünftig entfalten können. (...) Zweifelhafte hierarchische Strukturen innerhalb der Teams bremsen die Talente enorm. Wenn nichts Überraschendes passiert, dann werden sich einige der jungen Fußballer in den kommenden vier Jahren der Weltklasse nähern, während die Nationalmannschaften kaum davon profitieren. Denn der Vorsprung der stärksten europäischen Verbände ist eher noch größer geworden. Die Akribie, mit der Schlüsselpositionen im Umfeld europäischer Mannschaften mit kompetenten Leuten besetzt werden, ist in Afrika undenkbar. Afrikanische Verbände neigen nach wie vor dazu, ein veraltetes Denken und die dazugehörigen Köpfe zu importieren."

Menschenleere Geisterstädte

Jan Christian Müller (FR) lobt die Organisation des Gastgebers, aber macht den südafrikanischen Winter für die teils mangelnde Stimmung verantwortlich. "Die Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika war überladen mit Erwartungen, die sie nicht erfüllt hat, aber auch gar nicht erfüllen konnte. Atmosphärisch litten die Schattenspiele zwischen Kapstadt und Polokwane erheblich an der Dunkelheit und der Kälte des südafrikanischen Winters. Sepp Blatter ist ein mächtiger Mann, aber der Fifa-Präsident ist nicht mächtig genug, um den internationalen Wettkampfkalender mal eben umzuwerfen. Dieses Turnier hätte jedoch zu einer anderen Jahreszeit bei entsprechenden Temperaturen an lauen Abenden viel bunter, fröhlicher und atmosphärisch dichter erlebt werden können. Allenfalls in der Metropole Kapstadt und in Sandton entwickelte sich internationale WM-Stimmung. Johannesburg und Pretoria dagegen präsentierten sich bis auf ein, zwei kurze Straßenzüge durchweg als jene Geisterstädte, die sie auf absehbare Zeit nach Anbruch der Dunkelheit leider bleiben werden."

Roland Zorn (FAZ) rügt die Selbstgefälligkeit der Fifa in ihrer Kommunikationsweise: "Wohl noch nie war eine Fußball-Weltmeisterschaft derart politisch und propagandistisch aufgeladen wie diese, bei der Südafrika der Welt seine Weltklasse als Gastgeber vor Augen führen und die Fifa aller Welt ihren Mut zu neuen Wegen demonstrieren wollten. Wie in einem System kommunizierender Röhren spielten Blatter und seine Entourage sowie Zuma und sein ANC-Clan sich die Bälle zu, um am Ende gemeinsam als große Sieger dazustehen. (...) Blatter regierte seine Fifa während der WM aus den höheren Sphären des Elder Statesman, bereitete aber, in dieser Hinsicht noch recht irdisch, en passant seine Wiederwahl als Präsident im kommenden Jahr vor. In Südafrika präsentierte sich der schon in jungen Jahren als Festredner begehrte Blatter vor allem als Menschenbeglücker und wohlmeinender Entwicklungshelfer mit dem Anspruch, ein Erbe für die Zukunft zu hinterlassen. Gern identifizierte sich der manchmal arg salbungsvoll psalmodierende Sportführer wie ein Bruder im Geiste des südafrikanischen Nationalhelden und Friedensnobelpreisträgers Nelson Mandela. (...) Südafrika hat sich von seiner freundlichsten Seite gezeigt, und die Fifa-Bosse haben fröhlich mitgelächelt. So wie sie das 2014 in Brasilien tun werden, wenn auch dort alles gut geht und der kommende WM-Ausrichter seine Hausaufgaben zur Zufriedenheit aller erfüllt."

Presseschau zusammengestellt von Jan Vogel.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

WM 2010: Stimmen zum Finale
:"Es ist kein Traum"

Ganz Spanien ist stolz auf seine Mannschaft, Siegtorschütze Andrés Iniesta dankt ganz Spanien - und dem deutschen Tintenfisch. Stimmen aus dem Stadion und der internationalen Presse.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: