WM 2010: Presseschau:Calcio auf dem Tiefpunkt

Lesezeit: 7 min

Die Presse diskutiert über Löws überraschende Vorliebe für Stahlbäder, Italiens sportlichen Niedergang und den absehbaren finanziellen Kollaps in Südafrika. Eine Johannesburger Zeitung enthüllt einen Skandal.

Michel Horeni (FAZ) sieht die deutsche Mannschaft in einem Lernprozess, ebenso Joachim Löw: "Des Bundestrainers Vorliebe für Stahlbäder war bisher nicht bekannt, eher für Seidenschals - was man durchaus auch auf den Fußball übertragen kann, den er seine Mannschaft bei dieser WM spielen lässt. Wenn es gegen England geht, dann wird man mit dem eleganten Seidenschal-Fußball aus dem Eröffnungsspiel gegen Australien allein nicht weit kommen, das weiß Löw sehr genau. Da muss sich seine junge Mannschaft auch gestählt zeigen. Im Endspiel der Gruppe D, das nun nur wie das Vorspiel für das ewige Duell gegen die Engländer erscheint, wusste die deutsche Mannschaft aber lange nicht, wie an diesem Abend die richtige Fußballmischung aus Seide und Stahl, aus Eleganz und Widerstandskraft aussehen sollte, um in Südafrika noch weiter eine schöne Rolle zu spielen."

"Das Flugzeug der Scham steht bereit. Titelverteidiger Italien mit Trainer Marcello Lippi verlassen Südafrika und kehren voller Scham nach Haus", heißt es in der italienischen Sportzeitung "tuttosport". (Foto: ap)

Rollentausch in der Innenverteidigung

Jan Christian Müller (Kölner Stadtanzeiger) widmet sich der Problemzone Innenverteidigung. Besonders der ansonsten so sichere Per Mertesacker machte gegen Ghana keine gute Figur. Er steht noch nicht zur Diskussion, dafür habe er sich in der Vergangenheit zu viel Kredit erspielt, aber "irgendetwas scheint mit ihm, der schon bei Werder Bremen eine eher durchwachsene Saison absolvierte, nicht zu stimmen. Als die unangenehme Angelegenheit gegen Ghana endlich vorbei war, hat sich Mertesacker aus gutem Grund zu Arne Friedrich gesellt. Der war just in diesem Moment auf die Knie gesunken, erschöpft und erleichtert nach der schweren mentalen und physischen Anstrengung und einer wahrhaft großen Leistung - vermutlich seiner größten in acht von einer breiten Öffentlichkeit allenfalls flüchtig wahrgenommenen Jahren als treues Mitglied der deutschen Nationalelf. Jetzt, im Frühherbst seiner Karriere, schickt sich der Jubilar (75 Länderspiele) an, ohne großes Aufhebens Schluss zu machen mit dem Schattenmann Arne Friedrich. Geraume Zeit verharrten Mertesacker und Friedrich also gemeinsam am Boden und umarmten einander. Die Szene hatte die Anmut einer dramatischen Filmsequenz nach einem Kampf um Leben und Tod im Abspann." Auch Oliver Fritsch (Zeit Online) sah im Bremer Teil der deutschen Innenverteidigung die herausragende Schwachstelle in der Defensive: "Per Mertesacker stand fast das ganze Spiel neben sich. Stellungsfehler, Ballverluste, verlorene Kopfballduelle. Meine Forderung: Als Verteidiger musst Du meist seitlich zum Angreifer stehen, nicht frontal! " Schweinsteiger hingegen erhält ein Extralob: "War sehr viel unterwegs, stopfte Löcher, wo immer sie entstanden, sehr ballsicher, fungierte gut sowohl als Relais als auch als Balltreiber. Vorzüglich in der eigenen Hälfte. Konnte sich in der Offensive steigern."

Die italienische Schmach

Nach dem Vorrundenaus übernimmt Italiens Trainer Marcello Lippi die volle Verantwortung für das frühe Scheitern seines Teams. Zu Recht, findet Oliver Birkner (Spiegel Online): "Die Nibelungentreue zu alternden Stars wie Fabio Cannavaro, der nicht umsonst zukünftig seine Karriere in den beschaulichen Emiraten ausklingen lässt, oder Mauro Camoranesi wurde ihm nun zum Verhängnis. Ebenso wie die Wahl von mittelmäßigen Akteuren wie Vincenzo Iaquinta oder Simone Pepe. Und so erspielte sich Lippis Kollektiv in drei Partien gegen durchaus bezwingbare Gegner kaum Torchancen. Es fehlte an Tempo, Esprit und Überzeugung. Vielleicht hätte der Coach doch über die Nominierung von versierten und zuletzt überzeugenden Spielern wie Francesco Totti, Mario Balotelli, Antonio Cassano oder Fabrizio Miccoli nachdenken sollen. Sie passten jedoch nicht in Lippis angestaubtes Konzept, das 2006 in Deutschland noch funktionierte und jetzt die Schwächen des italienischen Fußballs gnadenlos offenlegt."

Für Markus Lotter (Berliner Zeitung) steht nach dem viel zu frühen Scheitern des Titelverteidigers das ganze italienische Fußballsystem in Frage, genau wie 1998 in Deutschland: "Welche Parallelen, die einem deutlich vor Augen führen, dass sich der Fußball in eigendynamischen Zyklen bewegt, wenn man gewissen Entwicklungen nicht rechtzeitig und nicht entschieden genug entgegenwirkt! Italiens Fußballmacher haben in den vergangenen 15 Jahren alles verpasst, was man nur verpassen konnte. Aller Calcio ist grau in einem Land, das mit der Finesse seiner Spieler, mit dem taktischen Witz seiner Trainer noch in den Neunzigerjahren den Weltfußball dominierte. Und aller Calcio ist böse und verkommen in einem Land, dessen machthungrige Politiker die Gewalt und die Korruption im Fußball nicht bekämpfen, sondern einfach dulden."

Ricardo Pratesi (La Gazzetta dello Sport) ist aufgrund der Leistung der Mannschaft tief enttäuscht: "An diesem Abend lief bei der Squadra Azzurra gar nichts zusammen. Die Nationalmannschaft versuchte verzweifelt, ein Tor zu erzielen, leider gelang es zu spät. Italien scheidet wie 1974 in der Gruppenphase einer WM aus. Eine katastrophale erste und eine zu passive zweite Hälfte waren wieder einmal die Merkmale dieser traurigen Mannschaft."

Bei Tuttosport heißt es zum Ausscheiden: "Das Flugzeug der Scham steht bereit. Titelverteidiger Italien mit Trainer Marcello Lippi verlassen Südafrika und kehren voller Scham nach Hause. Aus in der Vorrunde. Letzter der anspruchslosesten Gruppe der Welt. Italien lag nie in Führung und zeigte insgesamt eine traurige Bescheidenheit."

David Owen findet auf insideworldfootball.biz ebenfalls deutliche Worte: "Nach dem schmachvollen Ausscheiden ist der italienische Fußball am Tiefpunkt angelangt. Nur einen Monat ist es her, da musste Italien bereits eine bittere Pille schlucken: Im Rennen um die Ausrichtung der Euro 2016 wurde es hinter Frankreich und der Türkei nur Dritter. Die heimische Liga ist geprägt von finanziellen Schwierigkeiten der Vereine und schwindenden Zuschauerzahlen. Inter Mailand wurde wohl Championsleague-Sieger, allerdings ohne einen italienischen Spieler in der Startelf. Nicht einer aus dem Kader schaffte es ins Nationaltrikot." Auch abseits des Platzes hat das Ausscheiden des Weltmeisters große Auswirkungen: "Das frühe Aus ist besonders für den Sportartikelhersteller Puma ein herber Rückschlag, für den Italien das beste Pferd im Stall ist." Der Trainer des Titelverteidigers wirkte ratlos: "Der arme Marcello Lippi stand dort am Rande seiner Coachingzone, Hände in den Hüften, und sah mit seiner typischen Trainingsanzugshose aus wie ein alter Pensionär, dem gerade mitgeteilt wurde, dass sein örtliches Krankenhaus schließt."

WM 2010: Pressestimmen
:"Her mit den Deutschen"

Während die deutsche Presse kollektiv aufatmet und Mesut Özil feiert, stellen die englischen Zeitungen fest, dass die DFB-Elf keineswegs unschlagbar ist. Die Pressestimmen aus Deutschland und England.

Für Michael Brown (New Zealand Herald) hatte der zweite Auftritt Neuseelands bei einer Fußball-Weltmeisterschaft etwas Historisches: "Der Lauf der All Whites bei dieser WM war einer der Größten in der Sportgeschichte Neuseelands und es ist nach dieser Leistung keine Schande auszuscheiden. Sie kehren ungeschlagen nach Hause zurück. Wer hätte das vor dem Turnier gedacht? Sie haben Neuseeland auf die Fußball-Landkarte gesetzt. Die Leute aus aller Welt wissen jetzt, wo Neuseeland zu finden ist."

Bruder des WM-Organisations-Chefs verdient mit

Jackie Mapiloko, Gcina Ntsaluba und Adriaan Basson vom südafrikanischen Mail & Guardian decken einen weiteren Ticketskandal auf. Diesmal geht es nicht um leere Sitzplätze, sondern um Vetternwirtschaft beim Ticketverkauf: "Es ist bewiesen, dass eine Firma, die dem jüngeren Bruder von WM-Organisations-Chefs Danny Jordaan, Andrew, gehört, vom offiziellen Fifa-Tickethändler und Hospitality-Anbieter Match Services eine Lizenz für den Verkauf der Ticketpackete in Port Elizabeth erhalten hat."

Colleen Dardagan (Zeit Online) weist auf große wirtschaftliche Schäden nach der WM in ihrem Heimatland hin: "Die Fußballweltmeisterschaft betrachtete die Regierung, die verzweifelt nach internationaler Anerkennung strebt, als Eintrittskarte in den Führungszirkel der westlichen Welt. Endlich ernst genommen werden - das will Südafrika. Wenn unsere Regierung wenigstens den Mut zur Wahrheit hätte: nämlich, dass es ihnen alleine um das Prestige geht. Stattdessen täuschen sie ihre Wähler, indem sie fadenscheinig behaupten, die WM löse einen Wirtschaftsaufschwung aus. Die hohen und dauerhaften Kosten der WM verschweigen sie. (...) Eine Fußball-WM war das letzte, was Südafrika gebraucht hat, denn das Land hat enorme Lasten zu schultern: Kriminalität muss bekämpft werden, das Schulsystem reformiert, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps gerettet. Zudem hat eine desaströse Bodenreform dazu geführt, dass große Gebiete brachliegen und ein Land, das vor fünfzehn Jahren noch Nahrungsmittel exportiert hat, inzwischen unter Essensmangel leidet. (...) Noch mögen unsere Landsleute ihre Fußballtrikots anziehen, ihre Fahnen schwenken, tanzen und die Vuvuzelas blasen. Doch wenn sie später erwachen, werden sich die Menschen fragen, warum ihre Mägen noch leer sind und ihre Krankheiten ungeheilt. Und Blatter wird wiederholen, dass er ein Afrikaner ist. Er wird sagen, dass es das beste WM-Turnier aller Zeiten gewesen ist und er sich nie von Zweifeln den Schlaf rauben gelassen hatte. Und er wird durchscheinen lassen, dass er es gegen Widerstand durchgesetzt hat, diesem armen Kontinent das Vertrauen zu schenken. Doch in wenigen Wochen werden die Probleme dieses Entwicklungslands Blatter nicht mehr länger beschäftigen. Stattdessen wird er sich Brasilien zuwenden, dem nächsten Opfer des größten Betrugs auf Erden, der Fifa-Weltmeisterschaft 2014."

WM 2010: Presseschau Frankreich
:"Weltmeister der Lächerlichkeit"

Nach dem peinlichen Drama um die französische Nationalmannschaft überschlägt sich die heimische Presse mit Kritik. Das Verhalten der Spieler wird zur nationalen Schmach.

Till Schwertfeger (Welt Online) erinnert sich an prominente Rotsünder früherer WM-Turniere: "Die WM 1970 in Mexiko war die erste, bei der die Unparteiischen Rote und Gelbe Karten mit sich führten, doch in den 32 Partien gab es keinen einzigen Feldverweis. Zum Vergleich: Die WM 1998 in Frankreich hält den unrühmlichen Rekord mit 18 Roten Karten, in allerdings doppelt so vielen Begegnungen." Der erste wirklich prominente Sünder war der heutige Coach der Argentinier im Jahre 1982: "Diego Armando Maradona, 21 Jahre alt, gerade für die Rekordablöse von umgerechnet 20 Millionen Mark zum FC Barcelona gewechselt, galt als neuer Superstar am Fußball-Himmel. Das Turnier aber wurde zum Spießrutenlauf für Maradona, der so viel gefoult wurde, dass er in der Zwischenrunde beim 1:3 gegen den Erzrivalen Brasilien die Nerven verlor und Batista in den Magen trat. 1986 in Mexiko sah erstmals ein deutscher Spieler bei einer WM die Rote Karte. Im Viertelfinale gegen den Gastgeber schlug Thomas Berthold Gegenspieler Fernando Quirarte mit der Gipsmanschette, die seinen rechten Unterarm wegen einer Handgelenksverletzung schützte." Vier Jahre später stand wieder ein Deutscher im Mittelpunkt: "Unvergessen sind die Roten Karten gegen Frank Rijkaard und Rudi Völler im legendären Achtelfinale. Rijkaard foulte Völler, dann spuckte er ihm in die Locken. Nach dem folgenden Freistoß baute sich Hollands Torwart Hans van Breukelen aggressiv vor Völler auf, der mit Rijkaard rangelte, was der argentinische Schiedsrichter Juan Carlos Loustau zum Anlass nahm, Völler und Rijkaard nach rund 20 Minuten vom Platz zu stellen. Auf dem Weg in die Kabine setzte Rijkaard seine Spuckattacke übrigens fort. Die Namen auf der Liste der Rotsünder bei der WM 1998 in Frankreich sind vom Feinsten: Zinedine Zidane, trat einen auf dem Boden liegenden Spieler Saudi-Arabiens. Der Niederländer Patrick Kluivert ließ sich vom Belgier Lorenzo Staelens zu einem Faustschlag provozieren. Englands Shootingstar David Beckham trat gegen Diego Simeone nach." Legendär wurde es 2006: "Der Kopfstoß Zidanes gegen Marco Materazzi im Endspiel 2006 zwischen Frankreich und Italien (4:6 nach Elfmeterschießen) überschattete die WM in Deutschland. Frankreichs Superstar hatte sich im letzten Spiel seiner Karriere in der Verlängerung provozieren lassen und sah zum zweiten Mal nach 1998 bei einer Weltmeisterschaft Rot."

Presseschau zusammengestellt von Jens Behler und Kai Butterweck vom "indirekten freistoss" . Aus dem Italienischen übersetzt von Luciano Lago.

© sueddeutsch.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: