WM 2010: Ghana:Die Vorreiter

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Ganz Afrika setzt seine Hoffnungen auf Ghanas Mannschaft. Das eigene Land hofft, dass hinter der Aufbruchsstimmung der WM mehr steckt als nur ein flüchtiges Feuerwerk.

Arne Perras

Afrikas Party geht weiter, nicht in Johannesburg, sondern in Accra. Hier gibt es kein Frieren, man schwitzt, Tag und Nacht. Es ist feucht, die Moskitos schwirren, und manchmal ist es so heiß, dass man sich schon an einen eisigen Fanpark in Südafrika zurücksehnt. Auch die emotionale Fieberkurve des westafrikanischen Landes ist in die Höhe geschnellt. Ghana muss Uruguay bezwingen, um ins Halbfinale der WM einzuziehen. "Die Südamerikaner werden weinen", ruft einer der Händler in der Oxford Street - an Selbstbewusstsein hat es den Ghanaern selten gemangelt.

Sollte Ghanas Nationalmannschaft das Viertelfinale gegen Urugay gewinnen, wäre sie die erste afrikanische Mannschaft, die je im Halbfinale einer WM stand. Durch die Straßen der Hauptstadt weht schon jetzt der Traum vom Finale. (Foto: afp)

Sollten sie dieses Spiel tatsächlich gewinnen, dann sind sie das erste afrikanische Team in der WM-Geschichte, das in die Runde der letzten Vier vorstößt. Echte afrikanische Pionierarbeit wäre das. Und so schön ist dieser Traum vom Halbfinale, dass er jetzt durch alle Straßen von Accra weht, durch die Garküchen, wo Frauen ihren Fisch brutzeln, durch die klimatisierten Hallen der Banken, durch Klassenzimmer, Büros, bis in die Gemächer von Osu Castle, dem Sitz des Präsidenten.

Staatschef John Atta Mills war jetzt schon zwei Mal in Südafrika, um den Black Stars gut zuzureden und sie des Rückhalts der ganzen Nation zu versichern. Vermutlich sind dies nun die wichtigsten 90 Minuten, seitdem die frühere britische Kolonie Goldküste ihre Unabhängigkeit erlangte. Das Gefühl, einen ganzen Kontinent anzuführen, ist den Ghanaern nicht fremd. Das hat mit der Geschichte des Landes zu tun, denn unter den Afrikanern waren sie die ersten, die das koloniale Joch abstreiften. Das war im Jahr 1957, und bis heute hat dieser Schritt in die Freiheit das Selbstverständnis der Ghanaer geprägt. "Dieses Land fühlt sich als Schrittmacher des Kontinents", sagt Ato Kwamena Dadzie, Blogger und Nachrichtenchef von Radio Joy FM. Jetzt, da Ghana für den ganzen afrikanischen Kontinent die Flagge bei der WM hochhält, bekommt dieses Gefühl neue Nahrung. Die Ghanaer tragen die Rolle gerne, aber sie spielen sich auch nicht auf. Die Stimmung ist locker in Accra, aber nicht arrogant.

Panafrikanische Vision

Südafrikas früherer Präsident Thabo Mbeki hat nun alle auf dem Kontinent und in der Diaspora aufgerufen, sich hinter den Black Stars zu scharen, damit die Mannschaft erstmals den WM-Pokal sichert. Mbeki beschwor die Einheit Afrikas, das macht er gerne, aber diese Vision ist natürlich nicht neu, schon gar nicht in Ghana. Denn dies ist das Land von Kwame Nkrumah, einem der Väter des panafrikanischen Gedankens. Nkrumah war ein charismatischer Mann und zeichnete das künftige Afrika als neuen geschlossenen Block, der den alten Kolonialmächten die Stirn bieten müsse. Nkrumahs Ideen waren damals für viele Inspiration, allerdings entwickelte der ghanaische Staatschef bald diktatorische Züge und beförderte einen Personenkult um sich selbst, der ihn diskreditierte. Ein Putsch 1966 beendete seine Herrschaft.

Von der Vision des Kwame Nkrumah ist nicht allzu viel geblieben. Panafrikanische Ideen sind nicht mehr besonders mächtig. Sie flammen nur hin und wieder auf - oder sie werden von Libyens Herrscher Muammar al-Gaddafi gekapert. Gaddafi versucht sich bei AU-Gipfeln regelmäßig zum König aller afrikanischen Könige aufzuschwingen - bis er sich beleidigt zurückzieht, weil ihm die anderen nicht folgen.

Auch im Sport flackert jetzt also die Idee der afrikanischen Einheit auf. Alle scharen sich um die Flagge Ghanas, das überwindet Grenzen, von denen Afrika so viele hat. Und noch etwas kommt hinzu: Es ist das Gefühl, dass sich die Afrikaner im Wettbewerb mit der Welt tatsächlich behaupten können. Ghana hat die Supermacht USA auf dem Rasen bezwungen, das gilt nicht als Kleinigkeit. Das Gefühl, dass Afrika auch gewinnen kann, ist Balsam auf eine Seele, die viele historische Demütigungen erlitten hat: Sklaverei, Kolonialismus, Ausbeutung.

WM 2010: Ghana in der Einzelkritik
:Tiefergelegte Wucht-Fußballer

Ein 19-Jähriger in der Innenverteidigung, ein Tank mit Ballgefühl in der Spitze und ein alles überragender Kevin-Prince Boateng als Stier und Katze in einem. Der nächste DFB-Gegner Ghana in der Einzelkritik.

Thomas Hummel, Rustenburg

Der ghanaische Ökonom Nii Moi Thompson glaubt, dass die Entwicklung seines Landes vom sportlichen Erfolg profitieren kann, wenn die Gesellschaft nur die richtigen Schlüsse zieht. Es gehe um Schlüsselwerte, sagt er, und eine davon sei die Disziplin. "Schauen sie sich Brasilien an, das Team hat Erfolg, weil es Disziplin bewahrt. Frankreich demonstrierte das Gegenteil und flog raus." Diese Lehre ließe sich auch auf die Gesellschaft übertragen, den öffentlichen Dienst etwa, Schulen und Unternehmen. Im Kern geht es um die gute Organisation. "Wenn wir uns am Erfolg der Black Stars orientieren, dann hat ganz Ghana etwas davon." Denn dann könnte es endlich gelingen, "unsere großen Energien in Erfolge umzusetzen".

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Dass eine Gesellschaft solche Schlüsse zieht, sei nicht gewiss, aber die Politik Ghanas sollte den Impuls aufnehmen und Werte fördern, um das Land voranzubringen, fordert der Ökonom. Natürlich weiß auch Thomson, dass Fußball eine große Party ist, die "Menschen ins Delirium versetzt". Das sei aber kein Hindernis, um die Lehre von Disziplin und Organisation weiter zu verbreiten. Vor allem weil Stars auch Vorbilder sind, an denen sich die Jugend orientiert. Andere sehen dies skeptischer, Blogger Kwamena Dadzie glaubt, dass Sport eher ablenkt von den großen Problemen, und wenig dazu beiträgt, sie zu lösen. Etwa wie ein Feuerwerk: Es blitzt und kracht, der Himmel leuchtet in den schönsten Farben, ein staunendes "Aaah" macht die Runde - und dann ist wieder finstere Nacht.

Sicher ist, dass der Stolz der 24 Millionen Ghanaer einen mächtigen Schub bekommen hat. Genau genommen begann das aber schon im vergangenen Jahr, als der US-Präsident in Accra einflog. Es war das erste Land Afrikas, das Barack Obama besuchte, der erste schwarze Präsident Amerikas. Washington wollte damit ein Zeichen setzen und die demokratischen Erfolge des Landes loben. Ghana als Leuchtturm für den ganzen Kontinent. Da war sie wieder, Ghanas Vorreiterrolle, von der Supermacht ins Rampenlicht der Welt gerückt. Tatsächlich setzt sich das westafrikanische Land wohltuend ab von anderen Staaten, die bei Wahlen in Gewalt zurückfallen - oder die von alten Männern regiert werden, die sich um jeden Preis an die Macht klammern.

Reiche Böden, armes Land

All das ist in Ghana nicht zu beobachten, aber zugleich fällt auf, dass sich die demokratische Dividende nur schleppend in breiten Wohlstand und Entwicklung auszahlt. Ghana ist noch immer ein sehr armes Land - und seit langem ein Liebling der Entwicklungshilfe. Den Sprung zu einer dynamischen Ökonomie hat der Staat bisher nicht geschafft, trotz reicher Bodenschätze wie Bauxit und Gold. Bald wird nun auch Öl vor der Küste gefördert. Dies weckt Hoffnung, aber auch Ängste. Nicht nur das Öl-Desaster im Golf von Mexiko wird in Ghana genau beobachtet, sondern auch das Schicksal afrikanischer Nachbarstaaten, etwa Nigeria oder Äquatorialguinea. Vorbilder der Entwicklung sind diese beiden Staaten nicht - schon eher abschreckende Beispiele, in denen Korruption, Gewalt oder Gier Aussichten auf die Zukunft trüben. Ghana hat eine gute Chance, diesem Fluch zu entgehen, wenn es seinen eigenen Weg findet, die Öl-Einnahmen klug zu investieren. Aber davon ist in diesen Tagen gar nicht so viel die Rede, denn es ist ja die Zeit der Black Stars, die wieder auf den Rasen müssen, um Afrikas Ehre und Stolz zu verteidigen.

Ein paar Gewinner der WM sind in Accra schon jetzt zu finden. Man muss nur in die glücklichen Gesichter der Händler blicken, die ihre Läden an der Oxford Street haben. An der Ecke strahlt Monica Sackey. Jeden Tag verkauft sie jetzt etwa 50 Fußball-Shirts in ihrem kleinen Kiosk, alle made in China. Essien, Gyan, Appiah. 10 Euro verlangt sie pro Stück. So gut liefen die Geschäfte in 15 Jahren noch nie. Und wenn das Viertelfinale erst gewonnen ist, "dann wird das alles noch besser".

© SZ vom 02.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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