Wintersport:Gefährliche Rillen im Eiskanal

Lesezeit: 3 min

Bobfahren als Abenteuer: die Bayernkurve der Bahn in Rießersee in den fünfziger Jahren. (Foto: Bob Abteilung SC Riessersee)

Am Rießersee geriet eine der bekanntesten und berüchtigsten Bobbahnen der Welt in Vergessenheit - bis sich ein paar Rentner den Weg zu ihr durchschlugen.

Von Thomas Gröbner

Im Schatten des Waldes über dem Rießersee liegt ein Mythos. Bleich schlängeln sich die Reste der alten Olympia-Bobbahn von Garmisch-Partenkirchen, als hätte sich hier eine urzeitliche Riesenschlange gehäutet und wäre dann in den Rießersee geglitten, dessen Wasser fast bis zur Bahn schwappt. Die Natureisbahn war einst das Herz des deutschen Bobsports, eine der schönsten Bahnen mit gefürchteten Kurven.

Sie war die Heimat des "German Fleischbob", jenes legendären Viererbobs von Andreas Ostler, der mit seiner Besatzung 900 Kilogramm wog und große Löcher und gefährliche Rillen in den Eiskanal riss. Auf dieser Bahn über dem Rießersee wurden Männer zu Olympiasiegern gemacht, auf dieser Bahn starben Olympiasieger.

Historische Bilder
:Bobsport am Rießersee

Der Bau der Bobbahn per Hand, Zeitmessung per Stoppuhr und ein tödlicher Sturz in der Bayernkurve: Bilder von der alten Bobbahn am Rießersee

Und dann, plötzlich, geriet sie in Vergessenheit, und Stille und Gestrüpp wucherten über die Furchen im Wald. Die Schuld daran, da sind sich der alte Bobfahrer Franz Wörmann und Rolf Lehmann einig, trägt der Kilian.

Wenn Lehmann heute durch den restaurierten Kanal der Bobbahn geht, dann streicht der Vorstand der Bobabteilung SC Riessersee zärtlich über das Moos, rüttelt an Holzverschlägen und fischt Steine vom Boden. Inzwischen finden hier wieder Rennen statt - auf historischen Schlitten. Am 12. Februar wird mal wieder ein nostalgisches Rennen auf der restaurierten Bahn ausgetragen.

"Das war mein Baby", sagt Lehmann, "meine Vision." Er erzählt, wie hier seit 1911 Eisblöcke aus dem zugefrorenen Rießersee geschnitten wurden, wie sie aufgetürmt und zusammengefügt wurden zu einem mörderischen Eiskanal. Den die Menschen, die sich auf knarzende Holzkonstruktionen setzten, manchmal nicht beherrschen konnten. "Das waren keine Athleten. Aber mutig waren sie", sagt Lehmann. Früher, wenn ein Mann im Schlitten fehlte, "da hat man einen aus dem Gasthaus geholt und gefragt: "Magst mitfahren?", erzählt er. Lehmann steht in der Bayern-Kurve, eine 180-Grad-Schleife, "weltbekannt", raunt er und zeigt auf ein Kreuz. Darauf eingraviert: die Namen von vier Männern, die hier ihr Leben ließen.

TSV Vestenbergsgreuth
:Seine Freunde nennen ihn "Bayern-Killer"

1994 erlebte Roland Stein seinen größten Moment: Er schoss das Tor zum 1:0 des TSV Vestenbergsgreuth gegen den FC Bayern. Manchmal ist er immer noch ein Held.

Von Christopher Gerards

Ganz unten, da steht der Name des Schweizer Schreibmaschinen-Großhändlers und Olympiasiegers von 1948, Felix Endrich. Er ist 1953 das letzte Opfer der Kurve, nachdem er eine Woche zuvor auf derselben Bahn Weltmeister wurde. Diesmal gelingt es ihm nicht, den Bob in der Spur zu halten. Er wird aus der Bayern-Kurve geschleudert, wo seine Frau steht und sieht, was geschieht. Die Beiden waren auf Hochzeitsreise, keine vier Wochen verheiratet. Der Spiegel recherchierte danach, vermaß Neigung und Fliehkraft der Todeskurve und befragte Hanns Kilian, zu dieser Zeit der Präsident des Deutschen Bobverbandes und selbst aus Garmisch. Fazit: Nicht die Bahn sei schuld, sondern die Seil-Steuerung.

Ganz unten, im Ziel angekommen, steht eine kleine Hütte am See, da knistert der Kamin und raucht Franz Wörmann - glänzender Bobfahrer früher, glänzender Geschichtenerzähler heute. Mit Lehmann diskutiert er: Wer hat gewonnen 1961? Wie viel Weltmeisterschaftstitel hatte der Konkurrent Rösch? Jetzt keinen Streit, beschwört Lehmann.

An der Wand hängen Bilder aus einer Zeit, in der sich der Schnee neben der Bahn meterhoch türmte. Darauf Wörmann, als weltbester Nachwuchsathlet mit mannshohem Pokal. Daneben: Wörmann, im Kreis damals bekannter und heute vergessener Menschen, schultergeklopft. Wörmann, auf den Schultern seiner Anschieber, gefeiert als deutscher Meister.

17 Titel habe er geholt, das weiß er genau. Und warum es dann vorbei war mit dem Bobsport in Garmisch, das weiß er auch. Dann erzählt er eine Geschichte von Neid und Missgunst zweier Hoteliers, Stoff für ein Theaterstück, bei dem am Ende alle leer ausgehen.

Der eine, Kilian, Präsident des Deutschen Verbands und Besitzer des besten Hotels der Stadt, nimmt in dieser Geschichte die Rolle des Bösewichts ein. Der andere, Josef "Peps" Buchwieser, ist Präsident des Bayerischen Bob-Verbands und der Besitzer des Hotels an der Rießersee-Bahn. Eine Goldgrube, wie Wörmann meint. "Der Peps, der hat den Bobsport geliebt. Aber Kilian und er, die zwei waren überkreuz." 1966 wird die EM in Garmisch gefahren, viele Zuschauer, im Zweierbob stürzt Wörmann. "Ich hab mir das Kiefer abgehauen", diagnostiziert er. Dann wird das Rennen abgebrochen, weil die Bahn schmilzt, die Natur setzt sich durch. Doch die moderne Technik kann nun künstliche Kälte liefern, und es soll die erste Kunsteisbahn der Welt gebaut werden. Kilian versucht zu verhindern, dass die Bobbahn neben dem Hotel seines Konkurrenten gebaut wird - mit Erfolg. Am Ende kommt sie nach Schönau am Königssee. Und die Naturbahn über dem Rießersee verfällt.

Bis eine Gruppe Rentner im Jahr 2002, fast 40 Jahre später, mit der Motorsäge in den Wald zieht, um den Weg zur Bahn wieder freizuschneiden. Das Dröhnen der Sägen ist das Startsignal für die Erinnerungsarbeit. Schon 2003 wird die Bahn unter Denkmalschutz gestellt, der alte Bobschuppen wird 2006 zu einem Museum umgebaut - und hundert Jahre nach den ersten Fahrern stürzen sich wieder Tollkühne hinunter.

© SZ vom 02.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Wintersport
:Wie Olympia das Skiballett zerstörte

Skiballett erblühte in den 1970er und 1980er Jahren - es war der Ursprung der Freestylebewegung. Wie konnte die Sportart anschließend in der Versenkung verschwinden?

Von Johannes Knuth

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: