Es gibt Fußballspiele, die arten für die Beteiligten zur Qual aus. William Carvalho konnte sich das Ballgeschiebe seiner Kollegen nicht länger mitansehen. Er versteckte sich in der Nachspielzeit, so gut das eben möglich ist bei einer Partie, die noch andauert. In den eigenen Strafraum zog sich der Portugiese zurück, damit er sich im Zentrum nicht an der allgemeinen Sportverweigerung beteiligen musste. Die letzten Minuten beim 1:1 zwischen Portugal und Schweden am Mittwochabend machten dem Defensivspieler wenig Spaß - auch sonst dürfte sich in Zukunft niemand mit Zungenschnalzen daran erinnern.
"Das entspricht nicht unbedingt meiner Vorstellung von Fußball", sagte Carvalho hinterher, als feststand, das seine Elf bei der U-21-Europameisterschaft immerhin eine Runde weiter war. Die Portugiesen treffen nun am Samstag (18 Uhr, Liveticker auf SZ.de) in Olmütz im Halbfinale auf die deutsche Mannschaft. Das komplizierte daran: Über diese Portugiesen weiß kaum jemand etwas.
Die Gähn-Vorstellung der Schweden und Portugiesen lieferte wenig verwertbare Erkenntnisse für die Analytiker des DFB. Nachdem die Skandinavier die Führung der Portugiesen in der 89. Minute ausgeglichen hatten, entsponnen sich seltsame Schlussminuten. "Garbage Time" nennen das die Amerikaner, die Resteverwertung, wenn sich die Akteure bis zum Abpfiff nur noch gegenüberstehen und die Zeit herunterlaufen lassen. Das Remis genügte beiden Teams, um in die Runde der letzten vier einzuziehen, also tat man sich nicht mehr weh.
Nach den letzten Vorrunden-Spielen der U21-EM in Tschechien stehen die Halbfinalpartien fest: Deutschland tritt gegen Portugal an. Schweden spielt gegen Dänemark. Italien ist trotz eines Siegs gegen England raus.
Nur Carvalho wurmte die Langeweile. Der defensive Mittelfeldspieler von Sporting Lissabon ist ein Zupacker, für ihn muss Fußball weh tun, er liebt den Körperkontakt, das offensive Spiel. Einerseits. Andererseits ist der 23-Jährige mit einem klaren Auftrag nach Tschechien gekommen, er will alles dafür tun, "erstmals den Titel für mein Land zu holen", wie er sagt. Für den Erfolg ordnet er sich deshalb gerne unter.
Nötig hätte er es nicht, er kickt längst in der A-Nationalmannschaft und hat mit Cristiano Ronaldo die WM in Brasilien bestritten. Carvalho weiß schon jetzt, dass er nach der EM einen großen Vertrag in einer großen Liga unterschreiben wird, Real Madrid und der FC Barcelona beobachten ihn - wahrscheinlicher ist, dass er seine Unterschrift auf einen hoch dotierten Kontrakt bei einem Klub in der englischen Premier League kritzelt. "In England zu spielen, ist für mich ein Traum, seit ich ein Kind bin", erzählt der gebürtige Angolaner.
Der FC Arsenal und Manchester United gelten als Favoriten. Mit seiner wuchtigen und körperlichen Spielweise passt er auch am besten auf die Insel. Mit einem geschätzten Marktwert von 22 Millionen Euro ist er der höchstgehandelte Spieler der U-21-EM. In den Spielen haut er sich mit so viel Verve in jeden Zweikampf, als ginge es um Sonderpreise im Tackeln. "Ich bin Leib und Seele hier", bekennt Carvalho. Wie ihm geht es den meisten seiner Mitspieler.
Sie wollen erstmals das erreichen, was Ronaldo, Nani und all den anderen großartigen Spielern ihres Landes stets verwehrt geblieben ist: der Titelgewinn bei einem Turnier. Portugals Cheftrainer Rui Jorge gibt trotzdem den Tiefstapler: "Wir sind nicht die Favoriten, zu denen wir immer gemacht werden." Der ehemalige Nationalspieler verweist auf die Ausgeglichenheit der Mannschaften, er sehe alle auf einem ähnlichen Niveau, fügt er hinzu. "Der Ausgang der Spiele ist völlig offen und du brauchst auch ein bisschen Glück. Bisher hatten wir das."
In der Tat reichten den Portugiesen zwei Tore und ein Sieg in drei Spielen, um das Halbfinale zu erreichen. Einzig ihre Auftaktpartie gegen England konnten sie mit 1:0 für sich entscheiden - sowohl gegen Italien (0:0) als auch gegen Schweden öffnete sich sehr gut der Blick auf ihre Mängel: das Toreschießen. Sie kombinieren sich mitunter kunstvoll und mit Leichtigkeit bis zum Strafraum, doch da fehlt bislang ein Mini-Ronaldo. Es ist eine alte portugiesische Krankheit: Sie spielen vor dem Tor zu kompliziert, zu umständlich, zu leichtmatrosig.
Sein Tor bringt Deutschland ins Halbfinale: Der Berliner Abwehrspieler Nico Schulz überrascht bei der U-21-EM als Außenstürmer. Jetzt ist er auch ein Kandidat für das große DFB-Team.
William Carvalho bildet da eine Ausnahme: Er ist Wuchtbrumme und Präzisionsarbeiter zugleich, seine Pässe bringen Klarheit in die verspielten Aktionen. "Er ist ein unglaublich guter Fußballer, der fantastische technische Fähigkeiten auch im Spiel nach vorne hat", lobt sein Trainer Jorge. In der Qualifikation gelangen Carvalho zwei Tore in drei Spielen. Bei der EM wartet er noch auf seinen ersten Treffer. Das Spiel gegen Deutschland wäre ein guter Zeitpunkt dafür - denn nun schauen mehr Menschen zu.
"Für mich ist das ein vorweggenommenes Finale", sagt Carvalho, "weil die beiden Teams die spielstärksten Mannschaften sind." Nach der Begegnung will er dann einen Spieler treffen, der ihm etwas voraus hat: Der deutsche Offensivmann Serge Gnabry spielt bereits in England beim FC Arsenal. Vielleicht sind sie dort schon bald Kollegen. Der Londoner Klub ist Carvalhos Herzensverein. Als 13-Jähriger hatte er sich ein Poster von Thierry Henry übers Bett gehängt.