3:3 im schwäbischen Derby:Stuttgarter Streichorchester gegen Heidenheimer Hardrock

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Sportfreund Stiller und seine Bandkollegen des VfB Stuttgart feiern das zweite Tor gegen Heidenheim - am Ende stand es 3:3. (Foto: Christian Kaspar-Bartke/Getty Images)

Eine Partie nach dem Buy-one-get-one-free-Prinzip: Das spektakuläre 3:3 zwischen dem VfB und Heidenheim liefert zwei Veranstaltungen zum Preis von einer. Der vielleicht feinste Fußball der Stuttgarter Klubgeschichte prallt auf eine Elf, die spielt wie immer.

Von Christof Kneer

Der Schiedsrichter hatte die Partie anscheinend gerade abgepfiffen. So ließ sich jedenfalls die Körpersprache einiger Spieler beider Mannschaften interpretieren, die die Köpfe senkten oder zu Boden fielen. Die Körpersprache der Spieler zeigte auf der einen Seite Enttäuschung und auf der anderen Seite Enttäuschung an, obwohl die Enttäuschten aus Stuttgart ein paar Sekunden zuvor noch gejubelt hatten. Und die Enttäuschten aus Heidenheim ahnten in diesem Moment vielleicht schon, dass sich ihre Spontanernüchterung am nächsten Morgen in eine gewisse Zufriedenheit verwandeln würde.

Aber bevor es an eine emotionale und fachliche Analyse dieses in mehrerlei Hinsicht aufsehenerregenden 3:3 (1:0) zwischen dem VfB Stuttgart und dem 1. FC Heidenheim gehen konnte, waren erst noch zwei kleinere Fragen zu klären. War dieses Spiel überhaupt schon zu Ende? Und falls ja, wie war es ausgegangen? Deniz Undav stand da mitten unter all den unterschiedlich Enttäuschten, er hob den Daumen, dann senkte er ihn wieder, sein Blick formte ein riesiges Fragezeichen. Mein Tor hat gezählt, oder?

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Das Tor zum 3:3 war die Pointe unter ein Spiel, das lange nicht so aussah, als würde es eine Pointe brauchen. Nicht nur, dass Undav in der achten Minute der Nachspielzeit traf, obwohl nur sechs Minuten annonciert waren. Nicht nur, dass sein Tor sämtliche für den Fußball vorgesehenen Gemütszustände im Schnelldurchlauf durchs Stadion jagte. Mitten in dieser wilden Hatz der Gefühle stand da plötzlich auf der Anzeigentafel: "Torcheck wegen Foul". Falls Stille laut ausbrechen kann, tat sie genau dies in der Arena in Bad Cannstatt, allerdings folgte da schon die nächste Einblendung: "Torcheck wegen Hand".

Erst als Sebastian Hoeneß und Frank Schmidt, die Trainer beider Mannschaften, später in der Pressekonferenz über ein 3:3 referierten, festigte sich allmählich das Gefühl, dass diese Partie tatsächlich so ausgegangen sein könnte.

"Dieses Spiel hatte alles, was man als neutraler Zuschauer am Ostersonntag sehen will", sagte später der Heidenheimer Kapitän Patrick Mainka, der allerdings ebenso wenig ein neutraler Zuschauer war wie die 60 000 Menschen in der endlich fertiggestellten Stuttgarter EM-Arena. Möglicherweise macht man heutzutage keine Aprilscherze mehr, weil die Menschheit möglicherweise keinen Sinn mehr für Schabernack besitzt, umso faszinierender war der Humor, den dieses Spiel am Vorabend des 1. April entwickelte. Es war ein Humor, der weit über Zeit, Ort und Anlass hinausging und vielleicht sogar den sagenumwobenen asiatischen Markt erreichte.

Im Bundesliga-Spiel Stuttgart gegen Heidenheim steckt eine gewisse Ironie

Das war die Ironie, die in diesem Spiel steckte: Während die aktive Stuttgarter Fanszene aus Protest gegen die angebliche Schleifung der Mitgliederrechte und den Einfluss des neuen Investors Porsche ganz in Schwarz gekleidet zehn Minuten schwieg, steigerte sich da unten ein Fußballspiel in einen Rausch hinein, der jeden potenziellen Liga- und sonstigen Investor begeistern dürfte. Wenn Singapur dieses Spiel gesehen hat, schwärmt Singapur jetzt bestimmt für Angelo Stiller und Tim Kleindienst. Wer Claus Vogt und Christian Riedmüller sind, weiß Singapur dagegen nicht, obwohl die Stuttgarter Präsidiumsmitglieder von den dunklen Gestalten in der Kurve auf mehrere Kilometer langen Bannern zum Rücktritt aufgefordert wurden, mutmaßlich sehr zu Recht. Man muss aber auch sagen: Sollte Singapur von diesem kleinteiligen Konflikt nichts begriffen haben, hat Singapur nichts versäumt.

Das Spiel als solches hat sich sein Recht zurückerobert an diesem frühen Abend mitteleuropäischer Zeit, es präsentierte sich in einer Variante, die geradezu ideal zum Anfixen des asiatischen Markts war. Es war eine Partie nach dem Buy-one-get-one-free-Prinzip: Es gab zwei Veranstaltungen zum Preis von einer. Der erste Teil dauerte etwa eine Stunde und war von höchster Kunstfertigkeit geprägt, der zweite, kürzere Teil war lauter, krachender und viel direkter: Erst spielte ein Stuttgarter Streichorchester, dann folgte Hardrock aus Heidenheim. Zu diesem Schwaben-Crossover gehörten neben fünf imposanten Treffern ein kauziges Eigentor, eine rote Karte für den Heidenheimer Dovedan (zu hart), eine gelbe Karte für den Heidenheimer Trainer Schmidt (zu hart) sowie die fünfte gelbe Karte für den Stuttgarter Kapitän Waldemar Anton (zu unnötig).

Aber was diese Partie zum Faszinosum machte, war, dass ihr Ergebnis nicht erklärbar war. Auf die Idee, das Spiel 3:3 ausgehen zu lassen, wäre nach einer Stunde kein Mensch gekommen. Ohne sich einer gröberen Übertreibung schuldig zu machen, kann man behaupten, dass der VfB Stuttgart von 1893 in seiner Klubhistorie wohl selten so feinen Fußball spielte wie in dieser ersten Stunde, und wer in der 131-jährigen Geschichte einen Vergleichsmaßstab sucht, landet womöglich beim 3:0-Auswärtssieg in Hoffenheim vor zwei Wochen.

Was am Anfang der Saison noch ein Lauf zu sein schien, hat sich unter Anleitung von Trainer Hoeneß zu stabiler Klasse ausgewachsen. Mit nahezu schockierender Selbstverständlichkeit herrschte der VfB in allen Winkeln des Spielfelds, Serhou Guirassy, Deniz Undav, Chris Führich und Enzo Millot gaben den Heidenheimern, die sich mit Zweikämpfen eigentlich gut auskennen, nicht mal die Chance, einen zu führen. Irgendwo fand sich immer ein Räumchen für einen Steckpass oder eine klitzekleine Ballweiterleitung, und aus dem Zentrum brauste immer wieder der Sportfreund Stiller heran und ignorierte dabei kess den limitierenden Faktor, dass er eigentlich kein bisschen schnell ist. So entstanden zwei stilbildende VfB-Tore, jäh beschleunigt aus einer Ruhephase des Spiels heraus, mit Steilpässen (Stiller) und zwei Hackenvorlagen (Guirassy, Undav) vor Guirassys 1:0 (41.); mit kleinen Kopfballstafetten im Mittelfeld und Stillers Doppelpass mit Undav vor Stillers 2:0 (53.).

Es sei "unfassbar, wie die den Ball laufen lassen", sagte Heidenheims Kapitän Mainka über "die absolute Topmannschaft" aus Stuttgart. Und dann bekam Torwart Nübel den Ball nicht zu fassen.

Das schnelle Anschlusstor (63.) habe "die Heidenheimer wachgeküsst", meinte VfB-Sportdirektor Fabian Wohlgemuth, auch der Torwart Nübel war umfassend geständig. "Wenn mir der Fehler nicht passiert, wird's schwierig für Heidenheim zurückzukommen", sagte Nübel und erinnerte sich an Kleindiensts Kopfball als einen, den er "wie in 99 Prozent der Fälle abgefangen" habe. Er habe schon nach vorne geschaut, mit der Absicht, einen schnellen Konter einzuleiten, "und dann rutscht mir der Ball irgendwie durch".

Warum der VfB nach diesem Tor an Souveränität einbüßte und zwei weitere Treffer durch Tim Kleindienst kassierte (84., 85.), darüber gingen die Meinungen später durchaus auseinander. "Es war arrogant, wie wir gespielt haben", zürnte Deniz Undav direkt nach dem Spiel, "defensiv hat keiner mehr was gemacht." Jeder habe "versucht, ein eigenes Tor zu machen, anstatt den anderen zu suchen oder als Team zu spielen". Später, in der Mixed Zone, schloss er sich der milderen Linie des Trainers Hoeneß an, der zum Kontrollverlust seiner Elf "gemischte Gefühle" äußerte. "Das ist eine junge Mannschaft, die sehr vieles richtig macht. Ich möchte ihr das zugestehen - und noch mal zum Ausdruck bringen, wie überragend das ist, dass wir hier am Ende noch 3:3 spielen."

Während Hoeneß dies sagte, saß das Hauptargument für den kuriosen Spielverlauf neben ihm. Frank Schmidts Heidenheimer tun nichts lieber, als nach Rückständen zurückzukommen, idealerweise wie in Stuttgart nach scharfen Flanken (Beste zum 2:2, Dinkci zum 2:3) zum Mittelstürmer Kleindienst. Dass die Heidenheimer am nächsten Spieltag wieder in Rückstand geraten, ist allerdings unwahrscheinlich. Dann kommt ja nur der FC Bayern.

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