Alexander Zverev bei den US Open:Ritter in mintgrüner Rüstung

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Das markante T-Shirt als Glücksbringer: Alexander Zverev trägt beim Training in New York die Olympia-Kleidung von Tokio. (Foto: Kena Betancur/AFP)

Olympiasieger Alexander Zverev gilt als einer der Wenigen, die Novak Djokovic auf dessen Weg zum Grand Slam stoppen können. Was ihm hilft: dieses Kleidungsstück aus Tokio, das er auch in New York trägt.

Von Jürgen Schmieder, New York

Es war nur ein Trainingsspielchen, das Alexander Zverev und Diego Schwartzman vor Turnierbeginn im Arthur Ashe Stadium absolvierten, und doch wirkte der Argentinier ein wenig verzweifelt - nicht wegen seiner Leistung: Der Typ im mintgrünen Shirt auf der anderen Seite des Netzes war ganz einfach unfassbar gut drauf, er spielte druckvoll und präzise; geduldig und doch dominant; selbstbewusst, aber nicht arrogant. Irgendwann, während einer Pause, hockte Schwartzman erschöpft im Schatten, er sprach mit dem Trainer und deutete genervt auf Zverev, als wolle er sagen: Puh, viel Glück an alle, die gegen den da antreten müssen bei den US Open!

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Kleidung kann eine Rüstung sein, sie schützt gegen Kälte, Hitze, unliebsame Blicke, und manchmal auch gegen die eigenen Gedanken. Es war deshalb schon interessant, dass Zverev genau dieses Shirt trug bei der Rückkehr in dieses Stadion, in dem er vor einem Jahr die bitterste Niederlage seiner Karriere erlebt hatte. Er hatte im Endspiel gegen Dominic Thiem mit 2:0 nach Sätzen geführt, doch er verlor es, 6:8 im Tie-Break des fünften Satzes. Es war der bis dahin größte Erfolg seiner Karriere, er hatte davor nie ein Grand-Slam-Finale erreicht, und doch fühlte er sich so traurig wie selten zuvor.

Zverev war nur zwei Punkte vom Sieg entfernt - zwei Punkte!

"Ich denke oft daran", sagte er nach der Trainingseinheit mit Schwartzman: "Ich war ja nur zwei Punkte vom Sieg entfernt." Auch in die Antwort auf die nächste Frage webte er ein: "Ich war nur zwei Punkte vom Sieg entfernt." Fünf Mal sagte er es auf Englisch und zwei Mal auf Deutsch, und wahrscheinlich hätte er auch auf die Frage nach dem Wetter in New York gesagt, dass er im vergangenen Jahr nur zwei Punkte vom Sieg entfernt gewesen ist.

Zwei Punkten fehlten zum Triumph: Alexander Zverev nimmt 2020 In New York Dominic Thiem in den Arm, der soeben das US-Open-Finale im Tie-Break des fünften Satzes gewonnen hat. Der Titelverteidiger wird diesmal verletzt aussetzen. Zverev gilt als Titelkandidat. (Foto: Matthew Stockman/AFP)

Niederlagen prägen einen Sportler, oft viel stärker als Triumphe. Roger Federer spricht zum Beispiel immer wieder davon, wie ihn das verlorene Endspiel bei den US Open 2009 gegen Juan Martín del Potro beschäftige - und Novak Djokovic davon, dass er immer, wenn er nach Paris komme, an die Finalniederlage 2015 gegen Stan Wawrinka denke, vor allem nach dem Viertelfinalsieg gegen den bei den French Open als unbesiegbar geltenden Rafael Nadal.

Enttäuschungen können einen brechen, sie können einen aber auch stärker machen - wer weiß, ob Djokovic nun die Chance auf den Grand Slam hätte, wäre die zweite Hälfte der vergangenen Saison nicht so desaströs verlaufen; und wer weiß, ob Zverev auch als aussichtsreichster Kandidat auf das Verhindern dieses Djokovic-Ziels gelten würde, wären die vergangenen Wochen ein bisschen anders verlaufen.

Dieses mintgrüne Shirt von Zverev war keines, das einem der Sponsor schickt (Zverev hat derzeit keinen Ausrüster), sondern das Hemd der deutschen Olympioniken in Tokio. Später, bei der Pressekonferenz, da trug er das weiße Polo-Shirt der deutschen Olympiamannschaft.

Er kehrt nun also an den Ort zurück, wo er nur zwei Punkte entfernt war vom ersten Grand-Slam-Titel seiner Karriere, und er trägt die Kleidung, die er beim größten Erfolg seiner Laufbahn anhatte - er gewann in Tokio die Goldmedaille und rang im Halbfinale Djokovic auf meisterhafte Weise nieder -, als wäre es eine Rüstung gegen die dämonischen Gedanken. "Ich habe das Spiel bis heute im Kopf", sagte er, aber er sagte eben auch, nach dem Erwähnen der zwei Punkte: "Ich bin Olympiasieger, das werde ich für immer sein. Ich bin sehr froh, wie der vergangene Monat gelaufen ist, so was erlebt man ja nicht so oft."

Bisher erlebt Zverev den besten Sommer seiner Karriere

Zverev gewann nach Olympia auch noch in Cincinnati, und beeindruckend war dabei nicht nur, dass er auf dem Weg zum Turniersieg Stefanos Tsitsipas (Griechenland) und Andrej Rublew (Russland) besiegte - sondern, wie er das tat. Tsitsipas etwa gönnte sich eine achteinhalb Minuten dauernde Toilettenpause, der Prä-Olympiasieger-Zverev wäre nach solchen Mätzchen wohl implodiert und hätte die Partie verloren. "Ich habe mich schon noch geärgert", sagte er.

Doch zwischen Ärger und Ausraster liegt im Tennis ein Universum, und so gab es eben nur den Wut-Durchhänger und den Verlust des zweiten Satzes; danach war er wieder konzentriert, im Tie-Break des dritten Satzes war Zverev der klar nervenstärkere Akteur. Das Finale gegen Rublew war dann wie diese Trainingseinheit gegen Schwartzman in New York: Irgendwann erkannte der Gegner, dass es kaum Chancen gibt gegen einen, der so druckvoll und präzise, geduldig und doch dominant, so selbstbewusst, aber nicht arrogant spielt.

Zverev ist, und das ist nicht nur so dahin gesagt, in der Form seines erst 24 Jahre alten Lebens. Das ist vor allem auch an seinem zweiten Aufschlag zu sehen - der soll ja einen Blick in die Seele eines Tennisspielers gewähren. Zverev schubst diese Spieleröffnung nicht mehr ins Feld (oder bringt, wie in größten Krisenzeiten, die Zuschauer in den ersten Reihen oder das Ballkind am Netz in Lebensgefahr), sondern setzt die Gegner unter Druck und kann in dieser Gewissheit um die eigene Aufschlagstärke bei Eröffnung des Gegners mutig und aggressiv agieren - als wäre er ein Ritter, der in Drachenblut getaucht worden ist. New York ist aber nicht nur der Ort seiner bittersten Niederlage, sondern auch eines der Turniere, bei denen er bisher generell verwundbar gewesen ist.

Ein Moment, an sich zumindest einer der beiden gerne erinnern wird: Novak Djokovic (links) gratuliert Alexander Zverev zu dessen Sieg im Olympia-Halbfinale. (Foto: Jan Woitas/dpa)

Zverev hat noch nie eine Best-of-5-Partie gegen einen Top-Ten-Akteur gewonnen. Zufall? Kann sein. Es könnte aber auch daran liegen, dass Tsitsipas zum Beispiel bei so einem Marathonmatch garantiert vier Mal auf die Toilette ginge und die Pause beim Seitenwechsel mit dem Wechsel des Schuhwerks unerträglich in die Länge zöge - 2019 beschimpfte der Grieche deshalb einen Schiedsrichter, der zur Eile mahnte.

Zverev muss bei solchen Grand-Slam-Partien nicht nur eine, sondern möglicherweise mehrere nervige Situationen überstehen, wenn auch vielleicht nicht gleich beim ersten Match am Dienstag gegen den eindimensionalen und etwas müden US-Aufschlag-Kanonier Sam Querrey, 33. Und er muss verarbeiten, dass Djokovic sich, anders als etwa in Tokio, nach einem Durchhänger fängt und dann eventuell besser spielt als vor der kleinen Krise.

Was Rittern hilft gegen verwundbare Stellen: die Rüstung. Es würde deshalb nicht verwundern, träte Zverev bei den US Open in diesem mintgrünen Shirt aus Tokio an.

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