Kunstturnen:Party statt Revolution

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Den Gesetzen der Schwerkraft entzogen: Simone Biles schwebt bei der Bodenkür ihrem 20. WM-Titel entgegen. (Foto: Kenzo Tribouillard/AFP)

Das US-Team ist wieder Weltmeister - mit Simone Biles, die tadellos turnt, sich aber nachdenklich gibt. Den spektakulären Biles II, ihr neues Element am Sprung, spart sie sich noch auf.

Von Volker Kreisl, Antwerpen

Schon die Fahrt mit der Metro raus zum Sportpaleis verhieß Krach. Die Züge waren voll von Familien mit Teenagern, die sich in der Bahn auf dem Weg zum Sitzplatz natürlich tadellos benahmen, die in der Halle aber später einen höllischen Lärm entfachten, in einer Höhe weit oberhalb vom hohen C.

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Teamfinale, insbesondere das der Frauen, das heißt nicht nur Turnen, sondern das bedeutet auch Schmerzen, Tränen und Sportdrama. Als die Mannschaften vorgestellt waren, begann also ein Parcours der weltbesten Frauenriegen, der schon immer emotionaler war als jener der Männer, der diesmal besonders viele Überraschungen brachte, vor allem am Ende, als sich die Besten in den Armen lagen. Das Team USA hatte gewonnen, aber mit einem teils unglücklich geturnten Wettkampf. Dahinter platzierte sich Brasilien, Frankreichs Riege holte Bronze - vor China, Italien und Großbritannien. Die Turnwelt der Frauen rückt zusammen.

"Es ist ein bisschen schwieriger, weil ich älter bin und mein Körper müde ist"

Begonnen hatte der Wettkampf mit einer Enttäuschung für jene, die Extreme schätzen. Der Sprung war das erste Gerät der US-Amerikanerinnen. Und schon beim Einturnen wurde klar: Biles würde den Biles II heute nicht turnen, stattdessen eine herkömmliche Höchstschwierigkeit, einen gestreckten Salto. Ihre neue Erfindung im Portfolio, das fünfte Element, zeigte sie nicht. Simone Biles, gerade eben zurückgekehrt aus einer zweijährigen Auszeit nach einem mentalen Tief, sagte später, sie habe Respekt vor diesem ersten Finale nach dem Neuanfang gehabt. Nun hat sie ihren 20. WM-Titel errungen, wirkt aber auch nachdenklich: "An der Spitze zu bleiben und Tag für Tag zu pushen, ist ein bisschen schwieriger, weil ich älter bin, mein Körper müde ist."

Der Verzicht auf Biles II war also nur vernünftig, denn Team USA braucht für einen Sieg keine neue Sensation, sondern muss nur sein normales Können ordentlich zeigen. Doch auch das war nicht so leicht an diesem Abend. Schon beim Sprung verletzte sich Allrounderin Joscelyn Roberson am Knöchel. Nun musste das Team, das sonst mit vier oder fünf Punkten Vorsprung gewinnt, vorsichtig sein. Deutlich wurde das, als Ersatzturnerin Leanne Wong Sensationelles zeigte, aber ungewollt. Am Balken verlor sie das Gleichgewicht, konnte den Sturz aber halb abfangen. Dann hing sie wie eine Kletterin mit den Armen am Balken und kämpfte darum, nicht den Boden zu berühren, was als Sturz zählt. Doch die Erdanziehung war stärker, Wong stieg ab, und Team USA verzeichnete den nächsten Rückschlag.

Klammern gegen die Schwerkraft: Die US-Turnerin Leanne Wong versucht, den Absturz am Schwebebalken zu vermeiden. (Foto: Kenzo Tribouillard/AFP)

Nachdem die Simone- und die USA-Rufe auf den Rängen zurückgedrängt wurden, steigerte sich in den anderen Ecken der Lärm zu euphorischem Kreischen. Die Adressaten waren Team Brasilien und die Equipe aus Frankreich, jene aus China, Großbritannien und Italien blieben zurück. Beide Riegen hatten tadellose Spitzenturnerinnen: die Französin Melanie de Jesus dos Santos und die Brasilianerin Rebeca Andrade. Sie waren an diesem Abend derart in Form, dass Simone Biles, die auch etwas zweifelte ("Ich denke etwas mehr über meine Übungen nach, es fühlt sich nicht mehr so sorglos an."), sich keinen Sturz mehr erlauben durfte.

Noch nie hat eine Turnerin zwei Überschläge beim Sprung gewagt

Angesehen hatte man ihr das nicht. Sie stieg mit konzentrierter Miene aufs Podest zur Bodenübung. Sie hob den Arm zum Gruß an die Kampfrichter und tanzte und sprintete dann von einem höchst schwierigen Sprung zum anderen, allesamt sauber gestanden. Vielleicht verfliegen ja die Sorgen, die Biles' Freude am Turnen gerade etwas dämpfen. Vielleicht muss sie aber wie viele Spitzensportler diesen Zustand akzeptieren, weil mit mehr Erfahrung der Körper mehr Vorsicht fordert.

Projekte hat sie jedenfalls. Der Biles II, den sie womöglich schon am Freitag im Mehrkampf, vielleicht auch erst am Samstag (14.50 Uhr) im Sprungfinale turnt - dieser Sprung ist so ein Projekt, das ihr Zuversicht bringen könnte. Diese Akrobatik ist ja nicht nur eine halbe Umdrehung mehr, sondern ein Quantensprung, eine Revolution in diesem Sport. Noch nie hatte eine Turnerin zwei Überschläge am Sprungtisch gewagt, Doppelsalti galten als zu gefährlich. Nun kam Biles und präsentierte dieses Kunststück in der Qualifikation - und das nicht gehockt, sondern gleich in der gehobenen Version: gebückt.

Weil dies noch etwas unheimlich ist, fühlt sich Biles besser, wenn Coach Laurent Landi auf der Matte steht, um sie im Notfall aufzufangen. Jedoch, weil dies wiederum verboten ist, erhält Biles einen halben Punkt Abzug. Das kann sie in Kauf nehmen, weil ihre Erfindung im Ausgangswert mit 6,4 Punkten so wertvoll ist, dass sie trotz Abzugs immer noch um drei Zehntel besser ist als aktuell jede andere Akrobatik am Sprungtisch der Frauen.

Doch am Mittwoch war ja erst noch Teamwettkampf, der Biles II spielte keine Rolle, die US-Mannschaft gewann auch so, und hinterher dachte die Schöpferin bestimmt nicht ans Wochenende. Als die letzten Noten auf den großen Screens aufflackerten, fuhr ein Lärm durch den Sportpaleis, als wäre ein Flugzeug durchgeflogen. Unter Andrade, dos Santos, Biles und den anderen Medaillengewinnerinnen setzte ein Umarmen, Hüpfen und Zappeln ein, das einer Nachtparty glich, vor Mitternacht unten, zwischen Balken und Bodenmatte, wo nun alles tanzte.

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