Deutsche Turnliga:Salto in die Ungewissheit

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Auf dem Absprung: Alexander Kunz steht wohl vor seiner Abschiedsvorstellung beim TSV Pfuhl. (Foto: 24passion/Imago)

Fast nur mit eigenen Talenten haben es die Turner des TSV Pfuhl in die erste Liga geschafft. Nun steht der Weggang ihres Besten bevor, der Abstieg droht - und im Verein tobt ein Streit über die Finanzierung.

Von Andreas Liebmann

Ausgerechnet die Null. So viele Zahlen gibt es, mit denen man eine Geschichte über die Erstligaturner des TSV Pfuhl schöner hätte beginnen können. Die 13 zum Beispiel, die Zahl jener jungen Männer, die sich laut Chronik vor mehr als hundert Jahren "zum Laufen, Springen und Gewichtheben mit selbst gebauten Geräten im Schuppen einer Gaststätte trafen" - und zu diesem Zweck in Pfuhl einen Turnverein gründeten, im April 1894. Oder die 3000, die Zahl der Mitglieder, die der TSV heute hat, obwohl es der Neu-Ulmer Vorort selbst überhaupt nur auf 10 000 Einwohner bringt. Auch die 600 wäre nicht schlecht, die ungefähre Zahl der Zuschauer bei Heimwettkämpfen des Erstligateams. Zu besten Zweitligazeiten, erzählt Abteilungsleiter Michael Wolfgang, hätten sie sogar knapp 1000 gehabt, "da haben wir auch noch öfter gewonnen". Nun aber stand da diese Null und wollte einfach nicht weichen.

Eine Woche ist das jetzt her, der sechste von sieben Wettkampftagen der laufenden Saison. Die gastgebende TG Saar hatte einen Lauf, sammelte 14 Punkte am Boden, 14 am Pferd, 13 an den Ringen, machte einfach keine Fehler - und bei den Gästen blieb diese vermaledeite Null stehen, Gerät für Gerät, als wäre die digitale Anzeige kaputt. Für diese Annahme hätte einiges gesprochen, nicht zuletzt, dass die Null am Ende sogar hinter allen sechs Übungen von Alexander Kunz auftauchte. Konnte ja fast nicht sein, schließlich ist der 20-Jährige nicht nur der Topscorer des TSV Pfuhl, sondern der Topscorer der gesamten ersten Liga, ein von vielen Klubs gejagtes Talent.

Doch es war kein Anzeigefehler. Kein einziger Punkt gelang den Gästen an diesem Abend. 86:0 hieß es am Ende. Bei der TG Saar versuchte man später herauszufinden, ob dieser Zu-null-Sieg historisch einmalig wäre. Beim TSV Pfuhl sagte Kapitän Timo Rister: "Das Ergebnis spricht doch Bände! Es macht eben was mit einem."

Und er meinte damit all das, was zuletzt in seinem Verein vorgefallen ist.

Wahrscheinlich reicht es zum Ligaverbleib - aber ist das Fluch oder Segen?

Um die verfahrene Lage halbwegs zu verstehen, muss man vermutlich tiefe, historisch fundierte Einblicke in die Vereinsstruktur haben. Vielleicht reichen selbst die nicht. Fakt ist: Die Turnabteilung des TSV hat sich restlos mit jenem Förderverein überworfen, der ihm in den vergangenen Jahren den Wettkampfbetrieb des Bundesligateams ermöglicht hat, und zwar so gründlich, dass er im September beschloss, die Finanzierung und Organisation der Wettkämpfe künftig selbst zu übernehmen. Aktuell ruft er nicht mal mehr jenes Geld ab, das der Förderverein (FöV) längst eingesammelt und auf dem Konto liegen hat.

"Im Verein menschelt es", so versucht der Klubvorsitzende Jürgen Mohn, dem Streit eine einfache Überschrift zu verpassen, auch wenn die Details komplizierter sind. Sie sind für jeden nachzulesen in Stellungnahmen und Gegendarstellungen auf den Homepages der Vereine.

Mitten in dieser Gemengelage war zuletzt also dieses 0:86 entstanden; und mitten in diese Gemengelage hinein fällt nun der letzte Wettkampftag, an dem es, wie es so oft heißt, um alles geht - aber niemand weiß, was dieses Alles für den Verein bedeutet. Klar ist: Der Tabellenletzte steigt ab - und der TSV Pfuhl hat realistischerweise nichts selbst in der Hand.

Bislang führt er dank mehr gewonnener Gerätepunkte ein abgeschlagenes Trio am Tabellenende an. An diesem Samstag (18 Uhr) kommt aber Tabellenführer KTV Straubenhardt zu Besuch, und es kann eigentlich nur darum gehen, ein weiteres Debakel zu verhindern. Ein Sieg ist unrealistisch. Die Rivalen Eintracht Frankfurt und STTV Singen haben etwas weniger furchterregende Gegner (SC Cottbus und TG Saar), und falls beide gewännen, würde Pfuhl absteigen. Wahrscheinlicher aber ist es, dass mindestens eines dieser Teams ebenfalls verliert, dann bliebe Pfuhl sportlich erstklassig - müsste aber fürchten, dass sich das eher zum Fluch als zum Segen entwickelt.

Gerade wird hier jahrelange Aufbauarbeit zerstört, glaubt Kapitän Timo Rister

Bis jetzt weiß man eigentlich nur eines: Alexander Kunz, der bislang allen Lockrufen anderer Vereine widerstanden hatte, wird wohl seine Abschiedsvorstellung geben, er hat beim TV Wetzgau zugesagt.

Ein paar andere aus dem Kader überlegen ebenfalls zu gehen oder kürzerzutreten. "Wir haben hier einen erheblichen Zeitaufwand", erklärt Teamkapitän Rister, ein Jurastudent. "In der ersten Liga wären wir wahrscheinlich chancenlos, und die Unsicherheit, wie es weitergeht, nagt." Gerade werde hier jahrelange Aufbauarbeit zerstört, findet Rister und macht deutlich, dass er in diesem Disput die Sichtweise des Fördervereins teilt. Er verschweigt aber nicht, dass andere im Team eher die Position der Abteilung verstehen.

Es gibt ein paar Dinge, auf die könnten sich wohl alle Funktionäre mühelos einigen. Sie alle sind stolz darauf, es fast nur mit eigenen Talenten so weit gebracht zu haben, angeleitet von Rolandas Zaksauskas, einem Trainer, der 2007 aus Litauen kam und inzwischen Verbandstrainer wurde. Sie alle sind stolz auf das moderne, 2,6 Millionen Euro teure Turnzentrum, das sie nach Eugen Egle benannt haben, viele Jahre lang "die treibende Kraft", wie Turnabteilungsleiter Wolfgang betont - und das der Bayerische Turnverband inzwischen als Regionalstützpunkt nutzt. Sie alle eint natürlich die Leidenschaft fürs Kunstturnen. Und wahrscheinlich könnten sie sich sogar auf folgenden Satz verständigen, den Jochen Scheuerer vom Förderverein sagt: "In diesem Konstrukt wackelt der Schwanz mit dem Hund." Nur die Auffassungen davon, wer hier Hund ist und wer Schwanz, die differieren.

Tatsächlich schwelt der Konflikt schon lange, spätestens seit vor mehr als einem Jahr aus der Abteilung darauf gedrängt worden war, die Ämter im Förderverein von denen im Sportverein personell zu trennen. Bis dahin war FöV-Chef Scheuerer zugleich Finanzvorstand im TSV, was ein gewisses Hand-in-Hand-Arbeiten erleichterte - aus Sicht Scheuerers, inzwischen Vizepräsident Finanzen der Deutschen Turnliga, habe nicht zuletzt diese Effizienz den Aufstieg ermöglicht. Als Konsequenz aus der Ämtertrennung zog sich der Förderverein für 2023 aus der Finanzierung und Organisation der Wettkämpfe zurück. "Sie haben uns die Finanzierung vor die Füße geschmissen", sagt Wolfgang.

Eigentlich, sagt Alexander Kunz, wäre er viel lieber geblieben

Seitdem ist alles verhakt. Der dreiköpfige Vorstand des Fördervereins ist aus Sicht der Abteilung zu sehr auf die Bundesliga fixiert, die Abteilung aus Sicht des Fördervereins zu sehr auf Breitensport und Mädchenturnen; und darüber, was die satzungsgemäße Aufgabe der "Unterstützung" des Turnens für den Förderverein genau bedeutet, scheiden sich die Geister: nur das Einsammeln und Weitergeben von Geld, wie der Verein das möchte? Oder die Mitgestaltung des sportlichen Bereichs, wie das dem Förderverein und einigen Geldgebern vorschwebt, mit weitreichenden Kompetenzen, die der FöV zum Teil aber auch früher innehatte. Hund oder Schwanz?

"Wir reden von einem Budget von 40 000 Euro", sagt Scheuerer in einem Ton, der klarmacht, dass der Förderverein dafür auch einen gewissen Einfluss auf das Handeln des Turnvereins braucht. Entsprechende Rahmenbedingungen für eine künftige Zusammenarbeit hatte er vor einigen Monaten formuliert, was letztlich zum endgültigen Zerwürfnis führte. Der Verein fürchtet, Kontrolle abzugeben und sich dafür finanzielle Risiken einzuhandeln.

Eine Verständigung scheint ferner denn je zu sein. Und mittendrin steht eine Gruppe Turner, die am Samstag wohl ihr Aushängeschild verliert und nicht weiß, wie es weitergeht. Alexander Kunz absolviert gerade seinen Grundwehrdienst, auch das war ein Teil der Erklärung für den vergangenen Samstag. Er erzählt, dass er kein Angebot vom Verein bekommen habe. Dass er eigentlich gerne geblieben wäre, weil es zu Hause am schönsten sei, weil er alle kenne, mit denen er da aufgewachsen, mit denen er in die erste Liga auf-, wieder ab- und wieder aufgestiegen sei. Und auch, weil noch mehr Potenzial in diesem Kader stecke. Für alle sei das jetzt ein komisches Gefühl, dass es so nicht weitergehe, und er bedauert es, dass die Parteien sich nicht einigen konnten.

Kapitän Rister verspricht für Samstag Kampfgeist. "Wir können was!", sagt er. "Wir sind nicht umsonst in der ersten Liga. Und wir wollen das zu einem schönen Ende bringen." Wer wüsste besser als ein Turner, wie wichtig ein guter Abgang ist? Irgendwann wird man dann wohl auch wissen, was der Begriff Ende genau umfasst. Vielleicht tut sich ja noch irgendeine Lösung auf. Sie wollen in der ersten Bundesliga jedenfalls mehr hinterlassen als die Erinnerung an diese eine Null.

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