Vor dem letzten Sprung hat Thomas Diethart doch noch etwas tiefer eingeatmet, und die Leute konnten sich fragen: Greift jetzt die Nervosität nach ihm? Wenigstens jetzt? Aber dann drückte er sich in die Spur, sprang und flog wie an der Schnur gezogen auf 140 Meter. Fliegende Österreich-Fahnen, entrückte Kommentatoren.
Die Eins leuchtete auf an der Anzeigetafel, und eine wundersame Geschichte war zu Ende geschrieben: Thomas Diethart, 21, Emporkömmling aus dem Tullnerfeld in der niederösterreichischen Skisprung-Diaspora, gewann nicht nur die Tageswertung beim Tournee-Finale in Bischofshofen, sondern auch gleich die ganze 62. Vierschanzentournee.
Die Etablierten Thomas Morgenstern und Simon Ammann hatten ihr Möglichstes getan, um den jungen Mann noch abzufangen. Aber es ging nicht. Diethart war vorne und er stammelte in sein Glück hinein: "Es ist so zugegangen, ich hab mich so gefreut."
Vierschanzentournee:Thomas Diethart fliegt zum ersten Gesamtsieg
Es ist der größte Erfolg seiner jungen Karriere: Thomas Diethart bewahrt beim vierten Springen in Bischofshofen seine Nerven und holt sich den Tournee-Gesamtsieg. Auch der Tagessieg geht an den Österreicher, die deutschen Springer haben mit den Podestplätzen nichts zu tun.
Drei sehr spezielle Tournee-Streiter fanden da auf dem Podest zusammen, und auch wenn die Ehre des Gesamtsiegers nur Diethart zuteil wurde - wirklich verloren hatten die anderen beiden keineswegs. Auch nicht Thomas Morgenstern, der auf der dritten Etappe noch mit den Göttern des Skspringens gehadert hatte, mit dem Wind und mit der Jury: Die Weitenjagd am Bergisel war in der Tat eine zerpflückte Angelegenheit gewesen. Der Föhn spielte mit den Springern, trug die einen auf ungeahnte Weiten, ließ die anderen so plötzlich fallen, dass diese notlanden mussten.
Der Finnen Anssi Koivuranta hatte Glück in dieser Windlotterie mit nur einem vollen Durchgang und ist nun der erste Nordisch-Athlet, der sowohl in der Kombination als auch im Spezialspringen einen Weltcupsieg vorweisen kann. Auch Ammann hatte Glück, Diethart immerhin ein bisschen. Morgenstern dagegen ließ der Föhn im Stich, und als der zweite Durchgang abgebrochen war, sein achter Platz Bestand hatte und sein Rückstand von 15,4 Punkten auf Diethart, klang er nicht sehr zuversichtlich.
Aber sein Sprung im Innsbrucker Rückenwind war gut, und damit hatte er wieder gezeigt, wie gut er seinen dramatischen Sturz verkraftet hatte, der ihm zwei Wochen vor der Tournee beim Weltcup in Titisee-Neustadt unterlaufen war. Keine Frage, Morgenstern war ein moralischer Sieger. Erst recht nach dem Montagabend, an dem er mit Platz drei hinter dem Slowenen Peter Prevc in der Bischofshofener Tageswertung auch sein Tournee-Ergebnis noch verbesserte. "Für mich ist der zweite Rang viel wert", sagte Morgenstern.
Auch Ammann konnte zufrieden sein. Er ist ein leichter Mann, und als der Weltskiverband Fis die Regeln so veränderte, dass die Athletik der Springer noch einmal wichtiger wurde, war das eine Herausforderung für ihn. 2011 begann er einen neuen Zyklus für Olympia, musste Gewicht zulegen, sich in gewisser Weise als Springer neu erfinden. Zeitweise hatte er Rückstand, aber dieses Jahr kreist Ammann wieder in den höheren Etagen. Es bedeutete ihm viel, noch einmal eine Chance auf den letzten Titel zu haben, den er noch nicht gewonnen hat, auf die Tournee-Krone.
Aber natürlich ist Thomas Diethart die Geschichte dieser Tournee gewesen. Sein Aufstieg binnen wenigen Wochen vom Austria-Cup-Sturzpiloten zum Tournee-Dominator scheint die Anteilnahme am Skispringen in Österreich auf ein neues Niveau gehoben zu haben. Es ist eben etwas anderes, ob ein Flachländer aus Niederösterreich, der in seiner Jugend zeitweise mit dem Vater in der Schanzenhütte übernachtete, um nicht die lange Rückreise nach Hause unternehmen zu müssen, den Olymp des Schanzensport stürmt - oder ob Hochbegabte wie Morgenstern siegen, bei denen Triumphe wie vorbestimmt zu sein scheinen.
Sieger der Vierschanzentournee:Popstars und Supermänner
Die früheren Sieger des traditionsreichen Skisprungvierkampfes waren allesamt wagemutig - manch einer auch abseits des Sports. Von Offizieren, Häftlingen und Maskenträgern.
Der Diethart-Geschichte wohnt der Zauber des ungeplanten inne, das rührt die Leute. In Michelhausen, wo Diethart herkommt, griff jedenfalls eine Skisprungbegeisterung um sich, die nicht nur zu Public Viewing im Ort führte. Sondern auch den örtlichen Pfarrer dazu bewog, den Gemeinde-Sohn Diethart beim Sonntagsgottesdienst in seine Gebete einzuschließen.
Die Anteilnahme hätte Diethart auch den Kopf verdrehen können, doch der junge Mann blieb ruhig. Bischofshofen gilt eher als Pflaster für Routiniers. Diethart nannte die Paul-Ausserleitner-Schanze prompt "schwierig, weil der Anlauf sehr flach ist", und während sich Ammann am Qualifikationstag als Vorqualifizierter so viel Ruhe gönnte, dass er fast das Frühstück im Hotel verschlafen hätte, ließ Diethart keine Gelegenheit aus, sich auf dem ungewohnten Bakken zu prüfen. Er wurde Zweiter in der Qualifikation. Und im Wettkampf sprang er dann wie selbstverständlich im ersten Durchgang die Bestweite.
"Ob man hinten oder vorne ist, ein Sprung muss eh immer passen, von daher greife ich eh an", sagte Diethart anschließend und vollendete sein Werk. Alles, was er tat, wirkte leicht. Auf eine unwirkliche Weise leicht. Es war, als würde ein Illusion wahr.