Vermutlich hätte man es schon im Mai 2019 ahnen müssen, bei der Tour de California. Tag für Tag kochte dieser Junge mit den babypopoglatten Wangen die Veteranen ab, ehe er höflich über seinen kometenhaften Aufstieg parlierte. Als dieser gewisse Tadej Pogacar die einwöchige Rundfahrt schließlich gewonnen hatte, posierte er mit einem Stoffbären auf dem Podium, der, na klar, ein gelbes Trikot trug. Nur die Champagnerdusche entfiel, notierten die Reporter amüsiert, Pogacar war damals erst 20 Jahre alt. Ein Jahr zu jung also nach kalifornischen Maßstäben.
Es klingt natürlich abgedroschen, aber es hilft ja nicht: Tadej Pogacar, mittlerweile 21, war seiner Zeit halt schon immer ein wenig voraus.
Ein Jahr später ist der Slowene einer von vielen Fahrern, die diese 107. Tour de France in ein jugendliches Forschungsprojekt verwandelt haben. Er lag nach den schweren Alpenetappen zwar schon 57 Sekunden hinter dem Gesamtführenden Primoz Roglic, aber solange Pogacar im Zeitfahren am Samstag nicht einbricht, sollte er die größte Rundfahrt der Welt am Sonntag als Zweiter beschließen, hinter seinem Landsmann. Der Preis des kämpferischsten Fahrers könnte dann an einen weiteren Tour-Debütanten wandern: Marc Hirschi, 22, jenen Schweizer, der als Solist eine Etappe und viele Sympathien gewann. Und hätte der Belgier Wout Van Aert, 26, nicht so schwer für seinen Teamkollegen Roglic geschuftet, ihm wären wohl mehr als zwei Etappenerfolge zugefallen.
Egan Bernal bei der Tour de France:Erdbebengräben unterm Fahrrad
Überraschende Vorentscheidung bei der Tour: Das Team Ineos um Vorjahressieger Bernal muss die Rundfahrt schon eine Woche vor dem geplanten Finale verloren geben.
Selten war eine Radsport-Generation so früh so gut. Aber ist der so frühe Erfolg auf Dauer auch eine so gute Idee?
Er habe stets seinem zwei Jahre älteren Bruder nachgeeifert, erzählte Tadej Pogacar im Vorjahr in Kalifornien. Also fuhr er schon mit neun Jahren seine ersten Rennen. Mit elf war er so gut, dass ihn zwei spätere Mentoren entdeckten: Andrej Hauptman, 2001 WM-Dritter im Straßenrennen für Slowenien, und Marko Polanc, der ihn ins Nachwuchsteam seiner heutigen UAE-Equipe beförderte. Dem Gewöhnlichen immer ein paar Pedaltritte voraus, das war früh das Leitmotiv: Sieg bei der Tour de l'Avenir 2018, der großen Talentmesse. Sieg in Kalifornien 2019. Drei Etappen und Gesamtrang drei bei der Vuelta 2019, einem der drei Schwergewichte der Landesrundfahrten. Gebirgshohe Erwartungen, die Pogacar damals so konterte: "Vielleicht werde ich sie nie erfüllen, aber ich werde nie aufhören, alles zu geben, um es zu schaffen."
Ein Anruf bei Matthew Winston, Sportchef von Hirschis Sunweb-Team, das immer wieder große Talente ausbildet: "Es ist noch gar nicht lange her, da hast du Junioren nur die Grundlagen vermittelt", sagt der Brite. Erst, als die Jungen zu den Profis umzogen, verfeinerten sie ihre Kunst, mit Leistungsdiagnostikern, Ernährungsexperten, Materialtüftlern. Mittlerweile arbeite auch der Nachwuchs derart gewissenhaft. Bei Sunweb spulen die Fahrer aus dem Talentteam strikte Trainingspläne ab, sie lassen auch Wattwerte und Herzfrequenzen von jenen Experten analysieren, die die Profis anleiten. "Vor ein paar Jahren waren wir in Großbritannien fast die einzigen, die mit dem Nachwuchs so spezialisiert gearbeitet haben", sagt Winston, "jetzt macht das fast jeder." Die Rohdiamanten gab es also schon immer, sie werden nun nur immer früher geschliffen.
Hinzu kommt eine neue mentale Wehrhaftigkeit. Hochbegabungen wie der Belgier Remco Evenepoel, 20, haben zuletzt das eiserne Gesetz der Szene ausgehebelt, wonach Greenhorns sich im Peloton erst einmal hochdienen. Das inspirierte Mitstreiter wie Marc Hirschi. "Unsere Generation traut sich etwas", sagte der im Vorjahr der Neuen Zürcher Zeitung. Hirschi war früh ähnlich strebsam wie Pogacar, ab der neunten Klasse ordnete er alles dem Sport unter; und wie Pogacar liebt er die Lust am Risiko: "Lieber einmal gewinnen und einmal Zwanzigster werden, als zweimal als Dritter ins Ziel kommen." Als er sich am Donnerstag wieder um den Tagessieg bewarb und in einer Abfahrt stürzte, sagte der spätere Sieger Michal Kwiatkowski: "Manchmal sind 99 Prozent besser als 100." Andere finden, dass die Jungen heute etwas arg respektlos agieren. Aber wenn man schon so unverschämt gut ausgebildet wurde - will man dann erst mal jahrelang den anderen die Wasserflaschen zutragen?
Ein wenig, sagt der Leistungsschmied Matthew Winston, werde die Szene dabei auch Opfer ihres Fortschritts: "Die nächste Generation kommt wahnsinnig schnell nach und treibt die jungen Vorgänger dazu, sofort erfolgreich zu sein", sagt er. Der Kolumbianer Egan Bernal gewann im Vorjahr als jüngster Fahrer in der 110-jährigen Historie des Rennens die Tour de France - als er in diesem Jahr entkräftet ausstieg, hatte ihn Pogacar im Klassement längst überholt. Wobei es immer noch Raum für Spätentwickler gebe, beteuert Wilson.
Bei Bora-hansgrohe, der zweiten deutschen Equipe in der World Tour, haben sie sich auf diesen Typus spezialisiert: auf junge Fahrer, die nicht unbedingt frühe Erfolge, aber viel Potenzial anbieten, das man langsam freilegen kann. Dan Lorang, der bei Bora das Performance-Ressort leitet, sagt: "Es gibt wenig Studien darüber, welche Auswirkungen dreiwöchige Rundfahrten für einen 21-, 22-jährigen Athleten haben können." Es spreche zwar nichts dagegen, ein wehrhaftes Talent früh zu fordern - aber im Zweifel ist es ihnen bei Bora auch nicht unrecht, wenn ein Emanuel Buchmann erst mit 26 Jahren aufblüht.
Langfristig? Jedes Sportlerleben ist wie eine Kerze; wenn sie früh und hell leuchtet, kann sie auch früher abgebrannt sein. André Greipel, 38, der am Mittwoch aus der Tour ausstieg, steckte mit 21 Jahren noch tief in der Nachwuchsklasse. Heute? Gehen viele Junioren "direkt in den Zirkus", sagte er jetzt der Deutschen Presse-Agentur: "Ob die mit 38 immer noch auf dem Fahrrad sitzen, weiß man nicht."
Langfristig wird es auch spannend zu beobachten sein, welchen Biotopen sich die Jungen anvertrauen. Andrej Hauptmann, Pogacars Mentor, wurde 2000 von der Tour ausgeschlossen, weil sein Hämatokritwert Blutdoping nahelegte. Mauro Gianetti, der UAE-Teamchef, leitete zuvor das Saunier-Duval-Team, das 2008 nach den Positivtests von Riccardo Riccò und Leonardo Piepoli die Tour verließ. In der Operation Aderlass, die derzeit in München verhandelt wird, war in Kristijan Durasek auch ein einstiger Teamkollege Pogacars enttarnt worden. "Ich weiß darüber so viel wie Sie", sagte Pogacar, als ihn ein Reporter im Vorjahr darauf ansprach. Da wirkte der Offensivgeist auf einmal ziemlich defensiv.