110. Tour de France:Schlagabtausch der Großmeister

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Alles bereit für die letzte Attacke am Donnerstag: Tadej Pogacar (rechts) lauert im Schatten von Jonas Vingegaard. (Foto: Anne-Christine Poujoulat/AFP)

Das Duell zwischen Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar entbrennt in den Pyrenäen: Zwar erobert der Däne das Gelbe Trikot, doch Pogacar landet einen empfindlichen Wirkungstreffer. Und das deutsche Team Bora-Hansgrohe um Jai Hindley erlebt historische Tage.

Von Johannes Knuth

Noch einmal blitzten ihre Trikots ganz vorne in der Gruppe auf, auf den letzten Kilometern des nächsten denkwürdigen Tages bei der 110. Tour de France. Da war Emanuel Buchmann, auf der Brust die schwarz-rot-goldenen Streifen, die ihn als deutschen Straßenradmeister auszeichnen, und der jetzt im Feld der Verfolger das Tempo an den Anschlag trieb. Dahinter Jai Hindley, sein Teamkollege und Kapitän von Bora-Hansgrohe im Gelben Trikot des Gesamtführenden. So preschten sie hinein in den letzten Anstieg, durch den Kurort Cauterets, bekannt für seine heißen Quellen, wenngleich auch diese letzte Prüfung der sechsten Tour-Etappe keinem Wellnessprogramm glich.

Und auch wenn Buchmann und Hindley am Ende formell zu den Geschlagenen des Tages zählten, durften sie sich doch als Gewinner fühlen, ein bisschen zumindest.

Diese beiden Tage in den Pyrenäen, die Etappen fünf und sechs de Tour, hatten das Klassement so aufgewühlt wie ein Orkan das Meer, und damit in etwa so, wie die Tour-Macher es sich erhofft haben dürften. Titelverteidiger Jonas Vingegaard übernahm am Donnerstag in Cauterets-Cambasque das Gelbe Trikot von Hindley, aber die 50 Sekunden, die er sich am Tag zuvor mit einem überraschenden Angriff auf seinen großen Rivalen Tadej Pogacar erschuftet hatte, brachte Pogacar mit einer ebenso harten Attacke am Donnerstag prompt um die Hälfte zum Schmelzen.

Dahinter bahnte sich ein Rennen um den dritten Platz im Klassement an - mit dem derzeit besten Blatt für Jai Hindley, den Australier aus dem deutschen Bora-Team. Dessen Etappensieg am Mittwoch in Laruns hatte ihm auch die Führung in der Gesamtwertung beschert, und auch wenn er am Tag darauf schon wieder aus der Spitzenposition herausfiel, landete er sanft: hinter den beiden Großmeistern, auf Platz drei in der Gesamtwertung, der am Ende dieser Tour wohl einem kleinen, inoffiziellen Gesamtsieg gleichkommen wird.

Punktsieg: Tadej Pogacar liegt im Gesamtklassement nur knapp hinter Gelb-Träger Jakob Vingegaard. (Foto: Anne-Christine Poujoulat/AP)

Hindley und seine Kollegen hatten das Fundament dafür am Mittwoch gegossen, als das Peloton erstmals in die Pyrenäen eintauchte. Der Australier, Buchmann und Patrick Konrad schoben sich früh in eine große Ausreißergruppe, wahrten den Vorsprung aufs Hauptfeld, ehe Hindley sich am letzten, schweren Anstieg auf den Col de Marie Blanque von allen verbliebenen Konkurrenten absetzte. Er kam nach 163 Kilometern in Laruns mit 32 Sekunden Vorsprung auf eine Gruppe um Vingegaard und Buchmann ins Ziel. Der 30 Jahre alte Ravensburger, vor vier Jahren noch Gesamtvierter bei der Tour, war nicht nur den ganzen Tag an der Seite seines Kapitäns gewesen, er war nebenbei auch auf Platz vier der Tages- und Gesamtwertung geklettert. "Das war eigentlich gar nicht geplant", sagte Buchmann. Damit hatten sie bei Bora nicht gerechnet: dass UAE Emirates und Jumbo-Visma, die Teams der beiden großen Favoriten Pogacar und Vingegaard, einen wie Hindley samt Helfer so weit würden ziehen lassen.

Am Donnerstag fehlen Vingegaards Attacken die Schärfe

Aber weil es nun mal so war, strampelten sie eben zum wohl erfolgreichsten Tag ihres Teams, das in diesem Jahr sein zehnjähriges Jubiläum bei der Tour zelebriert - und das seit einer Weile versucht, sich in den Klassements der großen Rundfahrten an der Spitze zu behaupten. So wie 2022, als Hindley am Schlusswochenende den Giro d'Italia auf seine Seite gezogen hatte.

Dass so ein Coup bei der Tour mit noch schmerzhafteren Pflichten einherkommt, bekam der Australier am Donnerstag zu spüren. Konrad, Buchmann, Bob Jungels, Nils Politt, Marco Haller, sie alle schufteten hart im Peloton, um die Gruppe der Ausreißer nicht zu weit entkommen zu lassen. Spätestens beim Anstieg zum Tourmalet sah man, dass dies nicht das natürliche Habitat der schwereren Fahrer wie Haller und Politt ist, sie wirkten ein wenig wie Stiere beim Rennpferdederby. Hindley und Buchmann waren dann recht früh alleine im Anstieg. Gelb zu erobern ist das eine, es zu verteidigen, über Tage hinweg, etwas völlig anderes.

Am Tourmalet schien sich dann rasch eine Kopie des Vortages zu entwickeln. Jumbo-Visma zog die Gruppe der Favoriten auseinander, auch Hindley und Buchmann fielen hinaus, bald waren nur noch Vingegaard und Pogacar übrig. Aber diesmal überstand Pogacar den Antritt seines Rivalen - anders als am Vortag, als der Slowene am Col de Marie Blanque sofort den Kontakt zum Dänen verloren hatte. Pogacar, so die Lesart zu dem Zeitpunkt, hatte bei seinem Sturz vor der Tour offenbar doch etwas mehr Substanz verloren als gedacht. "Ihr habt Pogacar echt am Haken, lasst nicht nach jetzt", knarzte es aus dem Teamfunk von Jumbo, den sie bei der Tour in diesem Jahr erstmals einblenden.

"Ich hatte wirklich ein Déjà-vu", gab Pogacar am Donnerstag zu. "Ich dachte schon, wenn das heute wieder so läuft, können wir hier unsere Koffer packen." Doch auch Vingegaards zweiter Attacke, am letzten Anstieg hinauf nach Cauterets-Cambasque, fehlte die Schärfe, aus dem Gesicht des Dänen sprach so langsam die Erschöpfung. Und Pogacar, ausgestattet mit einem hervorragenden Renninstinkt, schien das zu spüren. Sein Antritt kurz vor dem Ziel glich einem Keulenschlag, von dem Vingegaard sich nicht mehr erholte. Als er im Ziel eintraf, etwas mehr als 20 Sekunden hinter dem Etappensieger Pogacar, stieg er vom Rad - und sah nicht wie der neue Träger des Gelben Trikots aus. Eher wie ein Boxer, der vom Gong vor dem K.o. gerettet worden war.

"Ich würde das nicht als Rache für gestern bezeichnen", sagte Pogacar später, "aber natürlich war ich nach Jonas' Vorstellung sehr beunruhigt. Jetzt fühle ich mich natürlich viel besser." Und Vingegaard, der räumte gewohnt trocken ein, dass Pogacar diesmal "einfach stärker" war und er lieber zwei Minuten als Guthaben hätte, nicht 25 Sekunden. Eine Fortsetzung folgt vermutlich schon auf der neuen Etappe, am Sonntag hinauf zum Puy de Dome.

Und sonst? Emanuel Buchmann, der am Donnerstag viel im Wind gearbeitet hatte, fiel am letzten Anstieg wie erwartet weit zurück und auch aus den besten Zehn der Gesamtwertung. Aber das reichte, um Hindley auf Platz drei zu hieven und nach dessen Coup am Mittwoch im Gedächtnis der Beobachter zu halten. "Ich bin Linkshänder, aus Perth, West-Australien", so hatte sich der 27-Jährige nach seiner Triumphfahrt vorgestellt. "Ich liebe es, mein Rennrad zu fahren. Ich mag Avocado auf Toast und einen Flat White, so Standardzeug halt." Wenn es so weitergeht bei dieser Tour, wird er noch ein wenig mehr über sich preisgeben müssen.

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