Radprofi Victor Lafay:Der Mann, der auf dem Berggipfel Salami kauft

Lesezeit: 4 min

Victor Lafay beim Zielsprint der zweiten Etappe. (Foto: Jasper Jacobs/Belga/Imago)

Victor Lafay verzückt zum Beginn der Tour de France seine Landsleute - nicht nur wegen seines Etappensiegs. Über einen Fahrer, der eigentlich nicht ins Peloton passt, und französische Sehnsüchte.

Von Jean-Marie Magro

Er hat es getan. Victor Lafay hat es wirklich getan. Warum man einen Text über den 27-Jährigen aus Lyon mit genau diesen Worten beginnt? Nun ja, Lafay wird im Französischen genauso ausgesprochen wie die Satzbausteine "l'a fait", also "hat es getan". Auf Social-Media-Kanälen überbieten sich die sowieso am "jeux de mots", also an Wortspielen begeisterten Franzosen mit Botschaften wie: "Den Mutanten Pogacar und Vingegaard kann niemand folgen? Aber Victor Lafay!" Oder aber: "Wir warten nicht mehr auf einen Etappensieg, denn Victor Lafay!"

Lafay wird wegen seiner Instagram-Posts und Interviews wie ein Jack Grealish des Radsports gefeiert. Der Franzose passt eigentlich gar nicht in diesen Sport, weil er so schnell auf andere zugeht, so extrovertiert ist. Die wohl witzigste Anekdote, die das unterstreicht, spielt sich im Jahr 2018 ab. Lafay fährt damals bei der Tour de Savoie Mont-Blanc mit, die zweite Etappe gewinnt der Nachwuchsfahrer gar. Zwei Tage später befindet sich Lafay im Gruppetto, also unter den langsamsten Fahrern auf Bergetappen, die sich zusammen bemühen, die Karenzzeit einzuhalten und nicht auszuscheiden. Als sie hinauf zum Cormet de Roselend in den Savoyen schnaufen, gibt Lafay den Begleitern Bescheid, dass er kurz vorfahren werde, weil am Gipfel ein Stand geöffnet habe, der Salami verkaufe.

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Lafay war neu im Fahrerfeld und wollte anderen eine Freude bereiten. Am Stand dachte er noch darüber nach, ob wohl mehr Leute Beaufort- oder Haselnussgeschmack bevorzugten. Er entschied sich für letzteren. Als er schließlich wieder im Gruppetto ankam, wollte niemand etwas von der Wurst. So ist das Peloton nun mal: verschlossen und den Neuen gegenüber misstrauisch. Die einzige Möglichkeit, sich Respekt zu verschaffen, ist der Erfolg. Am nächsten Tag wurde Lafay Vierter.

2020 wäre Lafay fast aus dem Cofidis-Team geflogen - dann folgte er in einem Trainingslager seinem Kapitän

Dass der noch immer junge Franzose viel Talent hat, wussten seine Mannschaftskameraden bei Cofidis schon länger. Lafay selbst hingegen sei jemand, der Beweise brauche, weil er selbst nicht begreife, welch großes Potenzial er habe, heißt es. Diesen Beweis lieferte er am Samstag beim Grand Départ der Tour im Baskenland, als sich hinauf zur kurzen, aber fiesen Côte de Pike plötzlich nur noch drei Fahrer vorne an der Rennspitze befanden: "Der Oger, seine Nemesis und ich", wie Lafay später auf Instagram schrieb. Also: der zweimalige Tour-Sieger Tadej Pogacar, Titelverteidiger Jonas Vingegaard und eben dieser Franzose, der dem internationalen Publikum bis dato eher unbekannt war.

Er hat es getan: Victor Lafay nach seinem Sieg auf der zweiten Tour-Etappe in San Sebastian. (Foto: Nico Vereecken/Panoramic International/Imago)

Später war Lafay sogar etwas enttäuscht, weil ihm der Tagessieg verwehrt blieb. Das Selbstvertrauen aber nahm er in den nächsten Tag mit. Einen Kilometer vor dem Ziel, als sich die Favoriten Wout van Aert und Pogacar beäugten, fasste sich Lafay ein Herz, trat an und hielt die Spitzengruppe bis zum Schlussstrich auf Distanz. Der erste Sieg fürs Team Cofidis seit 15 Jahren. Victor Lafay hat es getan.

Auch wenn seine Mannschaftskameraden die Fähigkeiten des 27-Jährigen gut einzuschätzen wissen, so sei ein Sieg bei der Tour de France doch immer eine "kleine Überraschung", sagt Kapitän Guillaume Martin. 2020 wäre Lafay fast aus dem Cofidis-Kader geflogen. Seine Leistungen waren enttäuschend, man hatte sich mehr von einem EM-Zweiten der U23 erhofft. Doch bei einem Trainingslager in der Sierra Nevada war Lafay der einzige, der Martin in den Bergen folgen konnte. 2021 gewann Lafay eine Etappe beim Giro aus einer Ausreißergruppe heraus. Dieses Jahr erfuhr Lafay erst sehr spät, dass er im Cofidis-Aufgebot für die Tour stand. Eigentlich hätte er am Giro im Mai teilnehmen sollen. Ein positiver Test kam dazwischen - auf Covid.

Lafay ist ein Fahrer, wie ihn das französische Publikum sich wünscht. Er hat panache, also Wagemut. Er agiert und reagiert nicht nur - und er erinnert an Typen wie Thomas Voeckler, Julian Alaphilippe oder Thibaut Pinot, die französischen Helden des vergangenen Jahrzehnts. Sie haben nie eine Tour gewonnen, aber sie schafften mit ihren Angriffen und ihrem Leiden Emotionen.

Der Vorjahres-Vierte der Gesamtwertung David Gaudu hingegen, für seine Landsleute auch dieses Jahr die größte Hoffnung auf einen Podiumsplatz, versucht auf dem Rad möglichst keine Zeit zu verlieren und "nicht zu explodieren", wie er sagt. Angriffe von Pogacar und Vingegaard beachtete er zumindest 2022 gar nicht. Romain Bardet und Guillaume Martin fahren zwar etwas offensiver, jedoch fehlt ihnen der Punch. Sie haben viele Qualitäten, Bardet wäre wohl der Traum einer jeden Schwiegermutter, fürsorglich, nachdenklich; und Martin ist als studierter Philosoph und Theaterregisseur ohnehin eine außergewöhnliche Erscheinung. Sie entfachten aber nie das Feuer im Publikum.

Bloß nicht explodieren: David Gaudu, im Vorjahr Vierter der Gesamtwertung. (Foto: Stephane Mahe/Reuters)

Lafay wiederum hat Charisma, Witz und scheut auch die Konfrontation mit den Großen nicht. Sein Trainer sagt, dass er auf den kurzen Rampen, die fünf bis acht Minuten Maximalleistung erfordern, zu den zehn besten Profis gehört. Mindestens. Das macht ihn allerdings nicht zu einer Hoffnung auf den Gesamtsieg der Tour, womit man bei der chronischen französischen Krankheit wäre.

Nach dem letzten Gesamterfolg von Bernard Hinault 1985 versuchen französische Medien aus jedem Fahrer, der einmal ein vielversprechendes Resultat einfährt, einen potenziellen Hinault-Nachfolger zu machen. Dafür aber bringt Lafay nicht die Qualitäten mit. Zu inkonstant ist er über drei Wochen und schon bei seinem Etappensieg hatte er Glück, dass nach dem für ihn zu langen Jaizkibel-Anstieg die Spitzengruppe in der Abfahrt wieder zusammenrollte.

Lafay ist kein Vorreiter im Kampf gegen Doping, bei der MPCC ist er nicht Mitglied

Immerhin macht das den rasanten Aufstieg von Lafay bisher einigermaßen authentisch. Im Hinblick auf den ständigen Zweifel durch die Doping-Vergangenheit des Radsports wäre es besorgniserregend, falls dieser Lafay in den kommenden Wochen auf mehr als 2000 Metern Höhe die Topfavoriten attackieren sollte. Auf dem Sportler-Netzwerk Strava geht er transparent mit seinen Leistungswerten um. Zweifler merkten an, dass ausgerechnet auf dem letzten Kilometer der zweiten Etappe, die Lafay gewann, die App auf ganz mysteriöse Weise keine Werte anzeigte. Dabei handelte es sich aber um Datenschutz. Auf Strava hat Lafay wohl standardmäßig eingestellt, dass man Beginn und Ende einer Tour nicht einsehen kann.

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Lafay ist jedoch auch kein Vorreiter im Kampf gegen Doping. Cofidis stellt seinen Fahrern frei, ob sie Mitglied der MPCC, also der "Bewegung für einen glaubwürdigen Radsport", sein wollen. Mitglieder der MPCC verzichten etwa auf Kortikoid-Injektionen. Lafay ist einer derjenigen, die nicht zur MPCC gehören, sein Kapitän Guillaume Martin dagegen schon.

Der Vertrag des Manns aus Lyon läuft bei Cofidis nach dieser Saison aus. Natürlich möchte ihn Teammanager Cédric Vasseur halten. Durch seine Fahrweise hat Lafay jedoch einiges an Aufsehen erregt, auch bei Teams, bei denen er möglicherweise ein Vielfaches verdienen dürfte. Branchenführer Ineos-Grenadiers soll interessiert sein. Einer Sache muss sich Lafay dabei klar werden: Bei solchen Mannschaften, die nichts dem Zufall überlassen und jede Nudel auf die Waage legen, wären luftgetrocknete Hartwürste ein Tabu. Sie während eines Rennens zu kaufen sowieso, sie zu essen ... da fangen wir gar nicht erst an.

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