Tischtennis:München ruft jetzt "Dangi"

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Boll-Bezwinger: Dang Qiu spielt am Sonntag in München um EM-Gold. (Foto: Revierfoto/Imago)

Nach einem deutlichen Sieg gegen Timo Boll zieht Dang Qiu aus Nürtingen ins EM-Finale ein. Bei den Frauen spielt Nina Mittelham am Sonntag um Gold. Es gibt aber Kritik am Auslosungsmodus.

Von Andreas Liebmann, München

Timo Boll nahm seine Auszeit. 0:2 in Sätzen lag der Tischtennis-Rekordeuropameister zurück in seinem Viertelfinale gegen Dang Qiu, auch in diesem dritten Durchgang sah es schon wieder bedrohlich für ihn aus, 1:4. "Ich war auf der Suche nach Lösungen", sagte der 41-Jährige später, "aber ich hab keine gefunden." Und sein Coach? War auch keine Hilfe. Weil es ein rein deutsches Duell war, saß kein Coach an der Bande. Versonnen und schweigend starrte Boll also eine Minute lang ins Nichts, dann ging es weiter.

Die Zuschauer in der Rudi-Sedlmayer-Halle probierten am Samstagmorgen mit dezentem rhythmischen Klatschen zu helfen. Auch wenn Boll nun mal Boll ist, wollten sie sich nicht zu sehr auf eine Seite schlagen. Ganz anders als noch am Freitagabend klang das, als die Halle hier zum Hexenkessel wurde und die Fans ihre Athleten zu Siegen brüllten. Es ging dann alles ganz schnell. Nach kaum einer halben Stunde war Boll ausgeschieden, und Qiu, der 25-Jährige aus Nürtingen, stand im Halbfinale. Er hatte damit seine erste EM-Einzelmedaille sicher, nach einem Sieg gegen den Mann, der allein im Einzel acht Mal Europameister wurde binnen 20 Jahren. Und einige Stunden später sollte sein Weg noch weitergehen.

Dima, Bine, Nina, Nana - vor allzu große intellektuelle Herausforderungen stellten die Rufnamen der Deutschen das Münchner Publikum zumeist nicht, den seit Jahrzehnten bewährten Sprechchor "Auf geht's, Timo, auf geht's" abzuwandeln - was den meisten der Adressaten enorm half auf dem Weg zu Medaillen. Dimitrij Ovtcharov, Sabine Winter, Nina Mitttelham und Shan Xiaona waren gemeint. Für Dang Qiu, der phonetisch nicht ganz ins Schema passt, wird man noch etwas üben müssen. Denn dass der Mann, der den Schläger mit der immer seltener werdenden asiatischen Penholder-Griffhaltung führt, keineswegs versehentlich an den Top Ten der Welt kratzt (die er kurz sogar schon erreicht hatte), das zeigte er in München nicht erst gegen Boll. Aber eben auch da: Vor allem die Deutlichkeit seines Sieges überraschte, 11:7, 11:8, 11:6, 11:2.

Kritik gab es am Auslosungsmodus, der zu internen deutschen und schwedischen Meisterschaften führte

Die Angst vor Bolls Comeback-Qualitäten, die der Altmeister noch in der ersten Runde gegen den Polen Samuel Kulczycki gezeigt hatte, blieb groß, gestand Qiu später. Doch er ist inzwischen eine etwas andere Nummer als Kulczycki. An Position 13 der Welt steht er. Einer, der den ganzen Tag nur Tischtennis im Kopf habe, ein "Tischtennis-Wahnsinniger", wie Boll später sagte - um schmunzelnd anzufügen, er sei früher das genaue Gegenteil gewesen: "Ich bin heim und hab überhaupt nicht mehr über Tischtennis nachgedacht." Beim 10:1 im vierten Satz hatte Qiu neun Matchbälle, er nutzte den zweiten - wieder mit einem Vorhandtopspin, dessen Richtung Boll nicht vorhersah.

Kritik gab es am Auslosungsmodus, der seit 2018 keine Rücksicht mehr darauf nimmt, Spieler aus derselben Nation möglichst in verschiedene Töpfe zu setzen, weshalb Qiu nach dem Duell gegen seinen Doppelpartner Duda am Freitag als Nächstes eben auf Boll traf, während in einem anderen Teil des Tableaus vier starke Schweden nationale Meisterschaften austrugen. Zumindest Letzteres erwies sich aus Gastgebersicht als praktisch, weil den schwierigen Job, den topgesetzten Truls Moregardh aus dem Turnier zu werfen, netterweise Mattias Falck übernahm. Der ehemalige WM-Zweite bezwang damit den aktuellen WM-Zweiten.

Ovtcharov-Bezwinger Karlsson verliert sein Halbfinale tragisch - er bleibt mit dem Daumen an der Platte hängen und muss aufgeben

Dimitrij Ovtcharov sollte sich danach um Kristian Karlsson kümmern, den Schwager seines Teamkollegen Patrick Franziska, den er bestens aus Düsseldorf kennt, wo der 31-Jährige jahrelang für den Rekordmeister spielte. Und der mit Falck in München schon den Doppeltitel gewonnen hat. Doch das war gar nicht einfach - zumal Ovtcharov viele leichte Vorhandfehler einstreute, den letzten beim Matchball gegen sich: Mit 2:4 schied er aus. Der Schwede habe "am Limit gespielt", während er selbst eben doch seiner langen Wettkampfpause Tribut zollen musste. Schon in der Runde davor war es knapp - hätte ihn das Publikum dort nicht so frenetisch angetrieben, "ich hätte es nicht geschafft", war sich Ovtcharov sicher. Man habe das ja fast schon vergessen, wie es sei, mit Zuschauern zu spielen. Karlsson verlor später das ausgeglichene Halbfinale gegen den Slowenen Darko Jorgic tragisch, er musste aufgeben, nachdem er mit dem Daumen an der Platte hängengeblieben war.

Eine Medaille also, weder für Boll noch für Ovtcharov, sondern für Dang Qiu. Das war es für die erfolgsverwöhnten deutschen Männer. Bundestrainer Jörg Roßkopf nahm es locker. Die ganze Mannschaft habe einfach "zu viele Trainingsausfälle" gehabt, sagte er. Für Qiu galt das nicht, und dessen Erfolg könnte am Ende noch alles überstrahlen.

Die ganze Mannschaft habe zu viele Trainingsausfälle gehabt, sagte Bundestrainer Roßkopf

Denn er zog dann tatsächlich ins Finale am Sonntag ein. Auch gegen Falck zeigte er eine verblüffend souveräne Vorstellung. Ein erstaunlich kompletter Spieler ist er geworden im zurückliegenden Jahr, der auch im passiven Spiel große Qualitäten hat. Im Laufe dieser Partie übrigens beschlossen einige Fans, "Dang Qiu" sei schließlich auch zweisilbig - andere wussten um seinen Rufnamen "Dangi". Die Sprechchöre jedenfalls kamen.

Bei den Frauen erreichte Nina Mittelham das Finale. Die 25-Jährige war im Doppel und Mixed mit den Bedingungen in der Halle noch gar nicht zurechtgekommen, die Kulisse schien sie eher zu hemmen. Doch in der Einzelkonkurrenz steigerte sie sich deutlich und verwies ihre langjährige Berliner Teamkollegin Shan Xiaona im deutsch-deutschen Halbfinale auf den Bronzerang.

Eine unglückliche Niederlage, aber eine schöne Geschichte: Sabine Winter hat mit ihrer Bronzemedaille im Einzel ein großes Ziel erreicht. (Foto: Marius Becker/dpa)

Beinahe wäre sie im Endspiel erneut einer Teamkollegin begegnet: Sabine Winter nämlich, der Lokalmatadorin, die eine der schönsten Geschichten dieser EM zu erzählen hatte. Vor zwei Jahren, als die Organisatoren sie als EM-Botschafterin angefragt hatten, da hatte Winter gerade eine Operation an der rechten Schulter hinter sich. Sie hatte ihre internationale Karriere auf Eis gelegt, war vom Leistungszentrum Düsseldorf nach Hause zurückgezogen, hatte sich wieder ihrem Heimatverein TSV Schwabhausen angeschlossen und holte ihr Fachabitur nach. Ob das noch mal etwas werden würde, war höchst ungewiss. Aber wenn, das wusste die 29-Jährige, dann hätte sie noch zwei Ziele: den deutschen Meistertitel im Einzel - und eine EM-Einzelmedaille. Beides erreichte sie nun binnen weniger Wochen. Und auch wenn sie ihr aufregendes Halbfinale unglücklich mit 10:12 im siebten Satz verlor gegen Sofia Polcanova, eine befreundete Österreicherin, konnte sie danach strahlen über Bronze.

Es gab dann noch ein paar nette Botschaften in der ausverkauften Rudi-Sedlmayer-Halle. Von Boll etwa, dass er nun ja mitnichten aufhören werde, sondern sich auf das nächste Training mit Dang Qiu freue. Von Winter, dass die Tage in München "unfassbar viel Spaß gemacht" hätten und sie sich für dieses einmalige Erlebnis bedanke. Und von Ovtcharov: "Diese Veranstaltung", versicherte er, "ist das Schönste, was ich im Tischtennis seit vielen Jahren erlebt habe." Er, der Olympia-Dritte von 2021.

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