Ein bisschen hatte er schon vorher daran geglaubt, aber nach diesem Ball gegen Ma Long, den sie den Drachen nennen, war klar, dass dies ein perfekter Tag für ein kleines Tischtenniswunder sein könnte. Schon zu Beginn jenes Matches vor einigen Wochen in Budapest hatte der Unbezwingbare auf der anderen Netzseite einige für ihn untypische Fehler fabriziert, aber dann hatte Patrick Franziska Satzball zur 2:1-Führung. Ma Longs Ball tropfte nahezu unerreichbar von der Netzkante auf die Plattenkante, er war schon kurz vor dem Hallenboden, als Franziska ihn doch noch erwischte - und dann so exakt auf die andere Tischseite lupfte, dass die 40 Millimeter große Plastikkugel einfach nicht mehr aufsprang auf dem Tisch, sondern für Ma Long unschlagbar über die Oberfläche hinwegrollte. Nicht mal im Training könne er sich an einen solchen Glückstreffer erinnern, sagte Franziska später. Manchmal läuft es.
Mit diesem Erlebnis - er hat Ma Long, den mehrmaligen Weltmeister und Olympiasieger, dann ja tatsächlich besiegt - wäre Franziska, 29, Bundesligaspieler beim 1. FC Saarbrücken, im Prinzip dann auch zur EM nach München gereist. Allerdings kam er dort nun verspätet und ohne Vorbereitung an. Und in seinem Kopf schwirrte inzwischen ein ganz anderes Großereignis herum: Vor einer Woche kam sein erstes Kind zur Welt, Tyler, der Grund für Franziskas Verspätung.
Er hat aufgehört, die Tage zu zählen, an denen er nicht am Tisch stand. Acht? Neun?
Zwei seiner drei Medaillenchancen waren bereits vor seinem Eintreffen dahin, erst für ihn persönlich - und dann auch für den Deutschen Tischtennis-Bund, was den Druck auf das ganze Team für die Einzel erhöhte. Zunächst hatte Franziskas Mixed-Partnerin Petrissa Solja die EM verletzt absagen müssen, dabei hätten sie viel vorgehabt nach ihrem unglücklichen Aus im olympischen Viertelfinale von Tokio, als sie gegen die Japaner Ito/Mizutani sieben Matchbälle vergaben, sagte Franziska. Und dann hatte er auch um seinen Doppelpartner Timo Boll bangen müssen, dessen Start wegen eines Rippenbruchs aus dem Juni lange offen war. Letztlich sagten die Mitfavoriten ihre Doppelteilnahme zwar tatsächlich ab, aber nicht wegen Bolls Rippe, sondern weil sich Tyler zu viel Zeit ließ.
Er sei dann selbst gespannt gewesen, sagte er nach seinem Auftaktsieg am Mittwoch: wie es sich anfühlen, wie schnell er sein Gefühl, seinen Rhythmus finden würde - und ob überhaupt. In der Nacht davor kam er an, wenig Schlaf zuletzt, aber das Schmusen mit dem Kleinen habe er genossen. Er habe aufgehört, die Tage zu zählen, an denen er nicht mehr am Tisch stand. Acht? Neun? Die erste Hauptrunde überstanden alle Deutschen, auch Franziska nach kniffligem Beginn. Und am spielfreien Tag darauf? Habe er erneut kaum trainiert. "Ich dachte, das bringt jetzt auch nichts mehr."
"Du musst einen Deutschen schlagen, um Europameister zu werden", sagt Benedikt Duda
Jeder der fünf deutschen Männer war mit einem Rucksack aus Zweifeln in die Einzel gestartet, den er erst ablegen musste - und das, obwohl vier von ihnen unter den Top 15 der Welt stehen. Für Dang Qiu und Benedikt Duda waren es die Negativerlebnisse aus Doppel und Mixed. Timo Boll hatte lange pausiert wegen des Rippenbruchs. Auch Dimitrij Ovtcharov trat nach zwei Knöchel-OPs und einer Infektion mit wenig Wettkampfpraxis an. Noch fehle ihm das Selbstverständnis, in ein solches Turnier zu gehen in der Überzeugung, es zu gewinnen, sagte der Weltranglistenneunte. Man müsse sich Punkt für Punkt heranarbeiten, an die eigene Stärke glauben. Auch mit Hilfe des Publikums.
Nach der zweiten Hauptrunde am Freitag klang dann schon etwas mehr durch vom Selbstverständnis des DTTB-Quintetts. Nachdem sich Duda mit 4:3 am Österreicher Daniel Habesohn für das Aus im Doppel vom Vortag revanchiert hatte, bedauerte der Bergneustädter zwar, dass er nun am Nachmittag bereits im Achtelfinale auf seinen Doppelpartner Qiu treffe, viel zu früh also, aber es sei eben so: "Du musst einen Deutschen schlagen, um Europameister zu werden oder eine Medaille zu holen." Die Chance wahrte sich letztlich Qiu, in 4:1 Sätzen.
Timo Boll entzauberte dann den spektakulären Slowaken Wang Yang, über den er zuvor gesagt hatte, er sei zurzeit "mit der beste Abwehrspieler, wenn er heiß ist" - was Boll zu verhindern wusste. Ovtcharov biss sich 4:3 in einem begeisternden Siebensatzkrimi gegen den Portugiesen Marcos Freitas durch. Für Franziska reichte es am Abend dagegen nicht mehr. Mit 2:4 schied er gegen Tiago Apolonia aus.
Nur einem Spieler außerhalb Chinas ist es gelungen, die Großen Drei der Chinesen allesamt zu besiegen - Franziska
Boll trifft nun auf Qiu im Viertelfinale, eine deutsche Medaille ist daher sicher - und die Frauen legten am Abend noch weitere drauf: Sabine Winter, Nina Mittelham und Shan Xiaona zogen alle ins Halbfinale ein.
Dass er sich von seinem Sieg gegen Ma Long nichts kaufen könne, schon gar nicht bei dieser EM, war Patrick Franziska vorher klar. Es war eben nicht mehr als ein Viertelfinalsieg bei einem Weltcupturnier, auch wenn er zuvor nie einen Satz gegen Ma gewonnen hatte und so ein Sieg schwieriger sei als "gegen Rafael Nadal auf Sand". Aber was der Livekommentator im Stream aus Budapest behauptet hatte, das habe er dann doch noch mal nachrecherchieren lassen. Und ja, es ist offenbar tatsächlich so, dass es nur einen Spieler außerhalb Chinas gibt, der es je geschafft hat, die drei erfolgreichsten Chinesen der jüngeren Tischtennisvergangenheit allesamt zu bezwingen, Fan Zhendong, Xu Xin und Ma Long, die großen Drei. Und dieser eine heißt weder Boll noch Ovtcharov - er heißt Patrick Franziska. Auch wenn es noch nicht ganz reichte bis in die Top Ten, die immer sein Traum seien, könne er darauf später mal stolz zurückblicken.
Und ein paar Dinge gab es ja doch, die er mitnehmen konnte von seinem Sieg: Sein passives Spiel sei noch nie so gut gewesen, viele Extraschichten hätten sich ausgezahlt. Die er zuletzt eben nicht hatte.
Wenigstens der verpasste Doppelwettbewerb lief aus Franziskas Sicht dann trotzdem einigermaßen versöhnlich. Denn das schwedische Duo Mattias Falck und Kristian Karlsson siegte. Karlsson, lange in der Bundesliga für Düsseldorf aktiv, spielte in Runde zwei und drei sogar am Tisch neben Franziska, beide kämpften Schulter an Schulter ums Weiterkommen. Ein kurioser Zufall - denn Kristian Karlsson ist Tylers Onkel, Franziska ist mit dessen Schwester Frida verheiratet. Der Doppeltitel blieb also in der Familie.