Tischtennis:"Er konnte seinen Schläger kaum noch halten"

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Die Chancen stehen gut für den TSV Bad Königshofen, erstmals in der Klubhistorie einen der vier Playoff-Plätze zu erreichen - Jin Ueda trägt viel dazu bei. (Foto: Andreas Liebmann)

Jin Ueda war in Japan ein Star, hatte "eine Art Burn-out" - und kam aus der 14-Millionen-Metropole Tokio ins 6000-Einwohner-Städtchen Bad Königshofen. Unter seinem alten Lehrer Koji Itagaki spielt er nun in der Bundesliga erfolgreich für den TSV.

Von Andreas Liebmann

Der Ratschlag damals war ungewöhnlich, aber vermutlich war er weise. "Komm ohne Schläger", hatte ihm Koji Itagaki empfohlen. Nur mit der Familie. Nur zur Entspannung. Jin Ueda war immer noch ein Tischtennisstar in Japan, einer von vielen, die Itagaki über die Jahre an die Weltspitze gebracht hat. Nun aber hatte er eine Sinnkrise. "Er konnte seinen Schläger kaum noch halten", erinnert sich Itagaki.

Seit 2016 ist Koji Itagaki Cheftrainer des TSV Bad Königshofen, gerade sitzt er in der Geschäftsstelle des Tischtennis-Erstligisten. Offenbar hatte Jin Ueda damals das dringende Bedürfnis, seinen alten Lehrer aufzusuchen, und als er mit seiner Frau dann tatsächlich in dem unterfränkischen 6000-Einwohner-Städtchen ankam, da sahen die beiden, die in der hektischen 14-Millionen-Metropole Tokio gelebt hatten, das, was auch Itagaki jeden Tag sieht, seit er mit seiner Familie herzog: den historischen Marktplatz mit Fachwerkhäusern, die ländliche Idylle, die Natur. Ruhe. Das war noch vor der Corona-Pandemie.

"Er hatte eine Art Burn-out", erläutert Andreas Albert, der Teammanager des Erstligisten TSV Bad Königshofen. Es dauerte dann noch ein wenig, aber seit vergangenem Sommer steht Ueda bei seinem Klub unter Vertrag. Und seit der 32-Jährige mitspielt, ist das Team in der Tabelle nach oben geklettert. Vier Spiele vor Ende der Hauptrunde steht es auf Rang drei, vor dem sechsmaligen Meister TTC Zugbrücke Grenzau, vor dem SV Werder Bremen, vor dem viermaligen Meister TTF Ochsenhausen, nur abgehängt von Rekordmeister Düsseldorf und Champions-League-Sieger Saarbrücken. Noch ist alles eng, aber die Chancen stehen gut für Bad Königshofen, erstmals in der Klubhistorie einen der vier Playoff-Plätze zu erreichen. Das hat nicht unwesentlich mit Ueda zu tun. Auf Rang 28 der Weltrangliste stand er mal, doch das ist lange her.

Um die Krise von damals zu verstehen, muss man sich ein wenig in die japanische Tischtenniswelt hineindenken. Ueda war zwölf, als er an die berühmte Aomori-Schule kam, wo der ebenso berühmte Ausbilder Itagaki arbeitete. Zehn Jahre lang wurde er dort trainiert. In dieser Zeit hatte er mal ein Auslandsengagement, wie viele junge Landsleute, beim deutschen Zweitligisten Hagen. Es gibt in Japan keine Klubs wie in Deutschland, nur Betriebsmannschaften. Und seit 2018, Uedas erfolgreichstem Jahr, eine kleine Profiliga mit sechs Männer- und sechs Frauenteams, die T-League. In der versuchte er sich für die Olympischen Spiele von Tokio zu qualifizieren. Er scheiterte.

"Ich hatte das Gefühl, dass ich den Sinn meiner Existenz verloren habe."

"Es war ein viel größerer Druck, als ich mir vorgestellt hatte", erzählt er. Vor allem: Jüngere seien gefördert und eingesetzt worden. Das änderte sich auch nach Olympia nicht. In Deutschland spiele Alter keine Rolle, nur Leistung, in Japan gelte man früh als Veteran. Und das in einer Sportart, die bekannt dafür ist, dass man sie lange erfolgreich ausüben kann. Timo Boll, der mit Anfang 40 Höchstleistungen zeigt, ist kein Einzelfall. Jörgen Persson vertrat Schweden mit 46 noch bei Olympischen Spielen, mit 42 stand er im olympischen Einzel-Halbfinale. Chinas Überspieler Ma Long, immer noch Nummer drei der Welt, ist 35. In Japan investierten viele früh sehr viel in den Sport und würden dann mit Mitte zwanzig müde, sagt Ueda, eine Erfahrung, die er auch gemacht habe.

Jin Ueda bekam Angebote als Trainer und Betreuer, nur keine Anerkennung als Aktiver mehr. "Ich hatte das Gefühl, dass ich den Sinn meiner Existenz verloren habe", sagt er. Internationale Wettkämpfe bestreitet er seit Jahren nicht mehr, trotzdem wollte er sich mit anderen messen, fühlte sich fit, wollte wieder brennen, Verantwortung als Spieler tragen. Es reifte die Überzeugung, dass ihm die Trainerjobs kaum davonlaufen, wenn er erst noch in Deutschland herausfindet, wie man sich auch jenseits der 30 entwickeln kann. Also verkaufte er vor einigen Monaten sein Haus, zog mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern nach Unterfranken, und weil er der erste Profi war, der mitsamt Familie nach Deutschland zog, löste das in seiner Heimat Erstaunen aus.

Es klingt nun sehr lustig, wenn er von den Königshöfer Ping-Pong-Ultras angefeuert wird. "Jin, Jin, Jin", rufen sie im Chor von der Tribüne, was von einer kollektiven Gin-Bestellung phonetisch kaum zu unterscheiden ist. Am Sonntag werden die Fans mit einem Bus zum Auswärtsspiel fahren, es geht nach Düsseldorf, die Halle beim Branchenprimus ist ausverkauft. Ueda würde sich wünschen, dass es auch in seiner Heimat eine Vereinskultur gäbe, in der man die Spieler seiner Stadt so euphorisch unterstützen kann.

Den TTC Wiener Neustadt führte Ueda ins Final Four der Champions League

Neben "subtilen Spielzügen", taktischen Details im Aufbau von Ballwechseln, sieht Ueda vor allem das psychologische Duell als seine Stärke an, für ihn "der eigentliche Nervenkitzel" seines Sports. Sein Teamkollege Bastian Steger lobt die hohe Qualität in den Schlägen, hält ihn gar für einen der besten Spieler der Liga. Er kennt Ueda noch aus dessen Hagener Zeit ("lustiger Typ"), bei Uedas erstem Besuch trafen sie sich wieder. Inzwischen ist Steger 42, und er weist immer noch eine der besten TTBL-Bilanzen vor. Bei Ueda - bislang vier Siege, vier Niederlagen - ist Luft nach oben, allerdings drücken diese Zahlen nicht alles aus. Ausgeglichener ist das Team mit ihm geworden, schwerer berechenbar. Der Klub kann sich nicht die größten Stars leisten, aber in Ueda und Steger hat er nun zwei Routiniers im Kader, die nicht mehr von Weltcup zu Weltcup hetzen, sondern sich ganz auf die Liga konzentrieren.

Itagaki schildert seinen ehemaligen Schüler als empfindsamen Menschen, einen, der sich viel um die Familie sorgt. Auch das war ein Grund für Uedas Neustart, wie er einem japanischen Fachmagazin erzählt hat. Seine Frau und er hatten beide mit zwölf ihre Familien verlassen wegen des Sports, und eines Tages habe er darüber nachgedacht, wie viel Zeit ihnen wohl mit den Kindern bliebe. Er trainiert jetzt vorwiegend vormittags, während Sohn und Tochter den Kindergarten besuchen, danach hat er Zeit. Im Vergleich zu seiner Heimat lege man hierzulande mehr Wert auf die eigene Lebensgestaltung, "ein hohes Maß an Selbstverwirklichung" nennt er das.

Manchmal, sagt sein Trainer, denke Ueda sogar zu viel nach, wie unlängst beim verlorenen Heimspiel gegen Fulda, dem ersten Rückschlag im Kampf um die Playoffs. Ueda startete gut gegen Fan Bo Meng, stellte dann trotzdem etwas um - und geriet taktisch ins Hintertreffen. "Aber soll ich ihm sagen, dass er weniger nachdenken soll?", fragt Itagaki. Immerhin habe Ueda mit seiner akribischen Art Benedikt Duda geschlagen und Hugo Calderano, zwei der Besten der Liga. Itagaki glaubt, dass Ueda mal ein großer Trainer in Japan wird.

Ein Saisonziel hat Jin Ueda übrigens schon erreicht, von dem er anfangs selbst nichts ahnte. Denn sein neuer Verein hatte beim Wechsel ein Formular vergessen, was Ueda die Spielberechtigung bis Anfang Januar kostete. Deshalb hatte man ihm für die verlorene Vorrunde und gegen die erste Enttäuschung eiligst ein Champions-League-Engagement beim TTC Wiener Neustadt vermittelt. Und den führte er ins Final Four, wo die Österreicher sich an Ostern mit drei deutschen Teams messen werden. Ueda darf dort zwar nicht mehr mitwirken, aber er ist stolz auf seinen Beitrag. Und nach seinem Alter hat auch in Wien niemand gefragt.

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Koharu Itagaki hat schon mit 13 in der ersten Frauen-Bundesliga debütiert. Sie tritt dort für Jena an, international sammelt sie für Deutschland Medaillen. In Bad Königshofen, wo sie von ihrem Vater trainiert wird, hat sie am Sonntag ihr erstes echtes Heimspiel erlebt.

Von Andreas Liebmann

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