ATP Finals:Aufgewacht!

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Rechtzeitig aufgewacht: Andrej Rubljow macht vor seinem ersten Match bei den ATP Finals noch ein Schläfchen. Gut, dass er den Wecker gestellt hatte. Beim Sieg gegen Stefanos Tsitsipas folgt dann einer seiner besten Auftritte in dieser Saison. (Foto: Clive Brunskill/Getty)

Auch wenn er in Turin fast sein Auftaktmatch verschläft: Tennisprofi Andrej Rubljow hat sich in der Weltspitze etabliert. Doch er ringt noch zu häufig mit einem mächtigen Gegner - sich selbst.

Von Gerald Kleffmann, Turin/München

Andrej Rubljow geht es wie vielen Menschen. Er kann tagsüber nicht schlafen. Aber jetzt, ausgerechnet jetzt, in einem eher ungünstigen Moment, ist er doch einmal einfach weggedöst. Die Tenniswelt weiß das, weil Rubljow am Montagabend lange über einen Vorfall referiert hat, der ihm hörbar peinlich war.

Der 24-Jährige aus Moskau ist Tennisprofi, einer der besten auf der Tour. In Turin, in der Mehrzweckhalle Pala Alpitour, darf er gerade bei den ATP Finals teilnehmen. Nur acht sind qualifiziert im Einzel nach einer langen Saison. Müde sind alle ein bisschen, und da sich Rubljow am Montagnachmittag sagte, gut, mein Match gegen Stefanos Tsitsipas beginnt erst um 21 Uhr, legte er sich hin und stellte, zum Glück immerhin, den Wecker auf 18 Uhr. Als es klingelte, wollte er zunächst weiterschlummern. Er dachte, es sei der nächste Morgen. Alles war plötzlich so komisch dunkel. "Was, sechs Uhr am Abend, wie ist das möglich?", durchfuhr es ihn aber, als er erschrocken die Zeit sah. Rubljow glaubte erst, sein Handy sei kaputt. Oder er habe es nicht aufgeladen. Dann fiel ihm ein: "Oh, ich habe ein Match in ein paar Stunden. Ich muss aufwachen."

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Die ultimative Pointe dieser Begebenheit war danach: Rubljow gelang einer der besten Auftritte seiner Karriere. Wie eine Ballmaschine fertigte er den Griechen Tsitsipas, der als Vierter der Weltrangliste einen Platz vor ihm rangiert, mit 6:4, 6:4 ab. Vor allem seinen Aufschlag setzte er so präzise und hart ein, als würde er mit einem Degen wie beim Fechten gekonnt zustechen.

Rubljow hat nicht ganz die Bekanntheit seines Landsmannes Daniil Medwedew, was nicht nur daran liegt, dass Letzterer eben noch eine Nuance erfolgreicher ist: Der 25-Jährige aus Moskau gewann im September die US Open. Rubljow verbuchte bislang nur drei Viertelfinals bei Grand-Slam-Turnieren, zwei (Paris und New York) davon in dieser Saison, was verdeutlicht: Er hat sich wirklich festgesetzt in der Weltspitze. Damit hat er selbst eine wichtige Frage beantwortet, die er sich Anfang 2021 gestellt hatte: Gehöre ich da oben hin?

"Mal sehen, ob ich mich in den Top Ten halten kann oder ob ich nur das Level für eine gewisse Zeit zeigen konnte", so hatte er seinen Zweifel im Gespräch mit der SZ damals zum Ausdruck gebracht, was erstaunlich war. Denn zu jenem Zeitpunkt hatte Rubljow bereits sechs ATP-Titel binnen 14 Monaten errungen. Tennis gilt generell als ein Sport, der im Kopf entschieden wird. Rubljow ist gerade ein Beispiel dafür, wie sehr das zutrifft. Er ringt aber auch immer wieder mit Unsicherheiten, wie er offen einräumt. Er hat kein Problem damit, Schwächen zuzugeben.

Im Internet kursiert bis heute ein Boyband-Auftritt von ihm, Stilrichtung: Herzschmerz

Vielleicht ist Andrej Rubljow der netteste und deshalb zugleich zerbrechlichste Alpha-Mensch im Spitzentennis. Sein erfahrener Trainer Fernando Vicente, der Ende 2020 als "Coach des Jahres" der ATP Tour ausgezeichnet wurde, ermutigt ihn immer wieder, egoistischer, arroganter im positiven Sinne zu werden. "Er will, dass ich mich in engen Situationen mehr zeige", gab Rubljow im März im Gespräch zu. Dieses manchmal brunftig wirkende Gehabe mancher Konkurrenten fehlt ihm eben. Privat liebt Rubljow Musik, auch schnulzige, im Internet ist bis heute ein Boyband-Auftritt von ihm zu sehen, Stilrichtung: Herzschmerz. Am Computer komponiert er auch Songs und hofft, einmal einen ganzen Soundtrack herauszugeben.

Eine gute Person möchte er auch noch sein, hat er betont, höflich zu anderen und bescheiden. Wenn man der russischen Seele einen Hang zur Melancholie nachsagt, trifft das wohl auf Rubljow zu. Umso mehr kann der Beobachter auch erschrecken, wenn man ihn Tennis spielen sieht. Schnulzig ist da absolut nichts. Seinen Spielstil müsste man akustisch eher mit so etwas wie Rage Against the Machine unterlegen.

Rubljow knallt tatsächlich bei jeder Möglichkeit auf den Ball, mit voller Kraft. Dieser Sportlerehrgeiz, aktiv das Geschehen zu bestimmen, wurde ihm von seinen Eltern früh mitgegeben, der Vater war Boxer, die Mutter ist Tenniscoach. "Ich hatte früh auch dieses Gefühl in mir: Ich hasse es zu verlieren", erklärte er. Der Jähzorn auf sich selbst ist sicher das größte Hemmnis, das er immer wieder mal überwinden muss. Wäre es eine Kunstform, könnte man sagen: Er ist ein Meister in der Selbstbeschimpfung. Im Hadern. Im fassungslos Schauen. "Ich wäre gerne etwas ruhiger. Ich arbeite daran", sagte er auch - und durfte zu recht auf einen stattlichen Fortschritt verweisen: "Ich war in diesem Jahr emotional gesehen stabil."

"Ich wäre gerne etwas ruhiger. Ich arbeite daran": Andrej Rubljow hat kein Problem damit, Schwächen zuzugeben. (Foto: Marco Bertorello/AFP)

Dass es immer wieder in ihm brodelt und er sich auf diese Art aus dem Spiel nimmt, und sei es nur in kurzen Phasen, ist schlicht auf seine vielen Gedanken zurückzuführen. Nur: "Wenn man zu viele hat, ist es schwer, die richtige Balance zu haben", sagte er, "du wirst sonst mental verrückt. Wenn du alles überdenkst, weil etwas nicht klappt, wird es vielleicht noch schlimmer." Seinen Entwicklungsschub in die Weltspitze führt er vor allem auf die Einflüsse seines Trainers Vicente zurück. "Er hilft mir vor allem, wie ich schlau spiele, wie ich verteidige, wie ich den Gegner lese. Diese Dinge bringt er mir bei", schwärmte Rubljow. "Er ist wirklich gut und hat ein unglaubliches Auge für alles. Ich sehe jetzt vieles auf dem Platz völlig anders dank ihm."

In seiner zweiten Partie der Gruppenphase in Turin trifft er nun auf Novak Djokovic, der gerade dafür geehrt wurde, zum siebten Mal als Weltranglistenerster eine Saison beendet zu haben. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll", sagte Rubljow, wieder ganz der Schüchterne bei der Pressekonferenz. "Ich hoffe, ich gewinne ein paar Spiele." Er könne nur sein Bestes geben. Der Melancholiker und der Draufgänger in ihm ringen weiterhin miteinander. Auch wenn Rubljow nun zu den Besten im Männertennis zählt.

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