Auch der australische Schwimmer Mack Horton, 23, wird nie bis ins letzte Detail erfahren, was in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2018 in einem luxuriösen Anwesen in der chinesischen Provinz Zhejiang passiert ist. Wie es also dazu kam, dass sein ärgster Rivale über 400 Meter Freistil, der chinesische Olympiasieger, Weltmeister und Weltrekordler Sun Yang, 27, einen seiner Angestellten anwies, einen Hammer zu besorgen - um eine Dopingprobe zu zertrümmern, die er gerade hatte abgeben müssen. Ja, tatsächlich: mit einem Hammer. Im Beisein seiner offenbar aufgebrachten Mutter sowie eines schon einmal wegen Dopings gesperrten Arztes.
Aber das, was Mack Horton darüber weiß, hat ihm ausgereicht, um am Sonntag bei der Schwimm-WM in Gwangju ein Zeichen zu setzen, wie man es selten zu sehen bekommt im Spitzensport, in dem man doch als Athlet angeblich gar nichts tun kann gegen die mutmaßlich dopende Konkurrenz, außer sich still und ehrlich auf sich selbst zu konzentrieren.
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Es war der erste Finalabend, 400 Meter Freistil, Sun Yang gewann in 3:42,44 Minuten, unter ekstatischem Gekreische zahlreicher chinesischer Teenie-Fans. Zuhause in China steht er im Rang eines Popstars. Horton wurde Zweiter. Dann die Siegerehrung: Während Sun Yang mit einer Jubelgeste aufs Podest sprang, die wohl irgendetwas zwischen Unbesiegbarkeit und Unbeirrbarkeit ausstrahlen sollte, blieb Horton hinter dem Podium stehen, die gesamte Nationalhymne lang. Und als die drei Medaillengewinner um das obligatorische gemeinsame Foto gebeten wurden, kam dann folgendes heraus: Man sieht Sun Yang und den Bronze-Gewinner Gabriele Detti Seite an Seite, und dahinter, etwa auf Hüfthöhe der beiden, sieht man Mack Hortons versteinertes Gesicht. Es ist schon jetzt das Bild dieser WM. Es ist ein Protest gegen Sun Yang, der nach Ansicht vieler Schwimmer wenigstens provisorisch suspendiert sein sollte wegen der Nummer mit dem Hammer. Aber auch gegen den Weltverband Fina, der sich eine WM ohne einen der größten Schwimmhelden der Gegenwart offenbar gar nicht vorstellen mag.
Man muss an dieser Stelle noch mal an einen Ausspruch des Fina-Generalsekretärs Cornel Marculescu erinnern: Unter anderem mit Blick auf Sun Yang sagte Marculescu vor der WM 2017, er sei sich mit der Welt-Anti-Doping-Agentur darüber einig, dass man "Stars nicht von der Schwimm-WM ausschließen kann, nur weil sie einen kleineren Unfall mit Doping hatten". Die Wada stellte seinerzeit umgehend klar, sie sei ganz sicher nicht dieser Meinung.
"Der pinkelt lila"
Schon im Sommer 2014 war Sun Yang eines Dopingvergehens überführt worden, damals war er mit dem verbotenen Herzmittel Trimetazidin aufgeflogen. Der chinesische Verband beließ es damals mit einer "Rüge". Die Fina korrigierte das Urteil auf lediglich drei Monate Sperre nach oben, hielt es aber nicht für nötig, den Fall zu veröffentlichen. Erst nach Medienberichten wurde die Sperre bestätigt.
Im Sommer 2016 in Rio hatte Mack Horton auch dazu schon klare Worte gefunden, es herrschte Eiszeit rund um den Pool - damals ließ Horton es sich allerdings nicht nehmen, das Podium zu besteigen. Damals hatte er Gold gewonnen, Sun Yang wurde Zweiter. Und auch damals hatte Horton schon Mitstreiter unter den Athleten: Der französische Europarekordler Camille Lacourt etwa sagte über Sun Yang den einprägsamen Satz: "Der pinkelt lila."
Wenn dem so sein sollte, dann wäre allerdings auch diese Spezialbegabung nicht aufgefallen in jener Nacht im September. Denn während Sun Yang zur Abgabe einer Blutprobe immerhin überredet werden konnte, ehe er sie dann mit dem Hammer wieder unbrauchbar machte, scheiterte der Versuch, sein Urin zu bekommen, völlig. Pinkeln ging er zwar mehrmals. Bloß der Kontrolleur durfte nicht mit.
Nachzulesen ist all das in einem 59-seitigen Report des Doping-Paneles der Fina, der eigentlich "nicht öffentlich gemacht" werden sollte, den die australische Zeitung The Daily Telegraph aber zugespielt bekam und vor wenigen Tagen auf ihre Website gestellt hat. Wie der Fall sportrechtlich zu bewerten ist, das wird der Sportgerichtshof Cas im September entscheiden, würde Sun Yang als Wiederholungstäter eingestuft, droht ihm eine lebenslange Sperre. Er selbst geht laut Mitteilung seines Anwalts allerdings fest davon aus, dass die Anhörung beim Cas in Lausanne ihn entlasten wird.
Die Fina? Sieht es genauso. Der Abend des 4. September also: Kurz vor 23 Uhr kam Sun Yang nach Hause, da wartete bereits eine Kontrolleurin der weltweit tätigen Kontrollfirma IDTM auf ihn, zusammen mit einer Helferin und einem Helfer. Letzterer, ein chinesischer Assistent, machte offenbar als erstes ein Erinnerungsfoto mit seinem Handy von Sun Yang - was definitiv nicht den Regeln entspricht. Für Sun Yang war das der Anlass, an der ordnungsgemäßen Akkreditierung des Mannes zu zweifeln. Er lehne den Assistenten ab, teilte er mit - und da ansonsten kein Mann zum Test-Team gehörte, verweigerte Sun Yang über Stunden die Urinkontrolle. Bis 3.15 Uhr am nächsten Morgen ging es hin und her. Die Mutter drohte, sie kenne jemanden bei der Polizei - ihr kam schließlich auch die Hammer-Idee.
Das Protokoll notiert: "Die Kontrolleurin ist fassungslos"
Und der herbeigerufene Arzt, zwischenzeitlich suspendiert, weil er Sun Yang 2014 das Herzmittel verschrieben hatte, mischte ebenfalls mit. Irgendwann kam der Hammer dann zum Einsatz. Das Protokoll notiert: "Die Kontrolleurin ist geschockt." Verhält sich so einer, der nichts zu verbergen hat? Das ist jetzt die Frage.
Für das Doping-Panel der Fina war das allerdings nicht die Frage. Es ging alleine der Frage nach, ob Sun Yang womöglich zu recht verlangt habe, dass bei einem dreiköpfigen Test-Team drei offizielle Bestätigungen der Testfirma vorliegen. In den Regularien steht dazu nur das englische Wort "Documentation" - das Fina-Panel fand, das sei als Plural zu werten. Ergo: Sun Yang habe keinen Verstoß gegen die Anti-Doping-Bestimmungen begangen. Die Wada nannte die Entscheidung "unglaublich und inakzeptabel" und legte Widerspruch vor dem Cas ein. Doch warum verhandelt der erst im September? Wenn die WM-Medaillen vergeben sind? Am Cas, das teilte dessen Sprecher der englischen Times mit, liege das jedenfalls nicht. Das Sportgericht hätte auch ein Ad-hoc-Verfahren "an jedem Ort der Welt" durchgeführt. Bloß: Keiner der Beteiligten habe ein solches beantragt. Nicht Sun Yang, nicht die Fina, nicht die Wada. Und von sich aus ist dem Cas dieser Weg versperrt, weil es die Rechte der Prozessbeteiligten verletzen kann.
Sun Yang hat später in der Pressekonferenz übrigens die Ansicht vertreten, dass Mack Horton da wohl aus "persönlicher Unzufriedenheit" neben dem Siegertreppchen gestanden sei. "Er darf mir gerne wegen Unzufriedenheit den Respekt verweigern, aber dass er auch China wegen seiner Unzufriedenheit den Respekt verweigert, finde ich enttäuschend." Zu seinem Doping-Fall sagte er nichts. Er bereitet sich jetzt auf sein Rennen über 800 Meter vor, er ist da der Titelverteidiger.