Stuttgart in der Krise:VfB kann alles außer Punkte

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Nach der Niederlage gegen Hertha BSC Berlin schleichen die Stuttgarter Spiel deprimiert vom Platz. Voran: Alexandru Maxim (r) und Christian Gentner (l). (Foto: dpa)
  • Beim VfB Stuttgart gerät eine rechtschaffene Zukunftsplanung plötzlich in Konflikt mit der lästigen Gegenwart.
  • Sportchef Dutt und Trainer Zorniger kämpfen nach dem Null-Punkte-Start bereits um ihr Projekt.
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Von Christof Kneer, Stuttgart

Das Vereinsrestaurant haben sie ganz neu gemacht beim VfB Stuttgart. Die geschmelzten Maultaschen finden sich schon noch irgendwo auf der Karte, aber es gibt jetzt auch ganz viele dieser Gerichte, die als "spannende Pasta-Variationen" angekündigt werden, und es fehlt auch nicht der nützliche Hinweis, dass die exquisite Auswahl an Steaks mit "hochwertigen regionalen Zutaten" auf den Tisch kommt. Die ehemalige Klubkneipe ist jetzt mehr so urban gestylt, und einer aus der möglicherweise ebenfalls exquisiten Auswahl an Designern ist auf die Idee gekommen, die Decke des Restaurants mit Sprüchen zu verzieren. Man findet Zitate von Karlheinz Förster, Christoph Daum und sogar von Rainer Adrion, und gleich am Eingang spricht der frühere Torwart Eike Immel zu einem. Er sagt: "Insgesamt hätte das Spiel, wenn es anders gelaufen wäre, auch anders ausgehen können."

Eike Immel war vor 20 Jahren beim VfB. Sein Satz ist so aktuell wie nie.

Insgesamt hätten die ersten vier Spieltage, wenn sie anders gelaufen wären, auch anders ausgehen können. Der VfB könnte jetzt, ohne sich schämen zu müssen, auch sieben oder neun Punkte haben, er hat aber null, und ob am Sonntag gegen die gut gelaunten Schalker die ersten Punkte aufs Konto kommen, weiß nicht mal Eike Immel. Der VfB hat einen absurden Saisonstart hinter sich, weil der Unterschied zwischen null und neun Punkten wohl selten in der Ligageschichte so gering war. Hier ein selbst eingeschenktes Gegentor weniger, dort eine genutzte Torchance mehr: Schon könnte der VfB da stehen, wo er sich selbst erwartet hat. Mindestens in der Nähe von Bremen, Frankfurt, Köln oder Hertha BSC, und ganz bestimmt vor Ingolstadt, Darmstadt und dem HSV.

Rechts und links überholt

Der VfB gehört zu jenen Traditionsklubs, die zuletzt schwer aus der Zeit gefallen waren. Würde man alle Trainer, Manager und Vorstände der vergangenen Jahre auf der Decke des VfB-Restaurants protokollieren, müsste der Klub über einen Anbau nachdenken. Aber das sollte ja alles vorbei sein, vor ein paar Wochen sind sie beim VfB noch davon ausgegangen, dass sie dem HSV zeigen, wie Erneuerung geht.

Während die Hamburger einen branchenbekannten Wanderarbeiter als Trainer in die Stadt holten, der auch in Stuttgart auf die Restaurantdecke gehört (Bruno Labbadia), präsentierte der VfB stolz eine hochwertige regionale Zutat: Alexander Zorniger, einen wuchtigen, manchmal originellen Mann aus dem nahen Ostalbkreis. Mit ihm verknüpft der ebenfalls regional verwurzelte Sportchef Robin Dutt die Hoffnung auf einen neuen, urban gestylten VfB, der sich gleichzeitig auf seine alten Werte besinnen soll: auf junge, selbstgezüchtete Spieler, auf einen Spielstil, der sich der stürmischen Klubtradition verpflichtet fühlt und auf eine Vereinspolitik, die endlich wieder in langen Linien denken darf und sich nicht immer daran orientieren muss, ob Hannover oder der HSV auch verloren haben.

"Zu meinem Job gehört eigentlich das 50:50-Prinzip", sagt Robin Dutt, der Sportvorstand. "50 Prozent meiner Energie und Zeit würde ich gern in die mittel- und langfristige Planung investieren, die anderen 50 Prozent in die kurzfristige. Man würde sich natürlich wünschen, dass die Aktualität einem die Ruhe für diese Arbeitsteilung verschafft." Zuletzt war die Aktualität aber eher so, dass Dutt sehr kurzfristig mit Spielerberatern und anderen Vereinen um den Verbleib von Daniel Didavi und Filip Kostic kämpfen musste, die den VfB trotz gültiger Verträge gerne verlassen hätten; und jetzt muss er schon wieder Fragen nach dem Trainer beantworten. Dutt ist fest entschlossen, es "wieder gnadenlos durchzuziehen", wie er sagt; er will auch im Fall Zorniger wieder jene militante Ruhe ausstrahlen, mit der er schon Huub Stevens durchs Frühjahr gebracht hatte.

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In den letzten drei Spielen der vergangenen Saison war der VfB der wunderbarste Abstiegskandidat seit langem, der rasende Kostic bildete mit den gerade noch rechtzeitig genesenen Didavi und Ginczek ein Offensivdreieck, das man gerne "magisch" genannt hätte, wenn dieser Markenname nicht seit Elber, Bobic & Balakow schon vergeben wäre. Und natürlich muss sich Robin Dutt gerade andauernd die Frage anhören, warum man diese Mannschaft nicht einfach so weiterspielen ließ. Musste diese radikale Änderung des Spielstils denn wirklich sein, mit diesem wilden Anlaufen des Gegners, mit diesem Atemlos-durch-die-Nacht-Fußball nach vorne, mit diesen naiv aufrückenden Verteidigern und diesen hunderttausend Sprints?

"Wir können ja nicht wegen der drei letzten Saisonspiele die Spiele davor vergessen", sagt Dutt, "wenn man die komplette Saison sieht, muss jedem klar gewesen sein, dass eine neue Konzeption für den ganzen Verein dringend notwendig war."

Robin Dutt sagt, man habe eben "kein neues Auto gekauft, sondern wir entwickeln gerade selber eines. Wir sind mit der Entwicklung noch nicht fertig, aber das Nummernschild ist halt schon dran."

Die Saison hat dummerweise schon begonnen, der VfB ist also rausgefahren aus Bad Cannstatt, rauf auf die A8, mit coolen Ideen für eine neue Bordelektronik, aber in der ersten Kurve ist gleich mal der Rückspiegel weggeflogen. Und im Moment wird der halbentwickelte Roadster rechts und links überholt, unter anderem vom lässig winkenden Armin Veh, der seine Karre genauso einstellt wie vor 15 Jahren.

Der VfB hat sich entschieden, im laufenden Spielbetrieb für die Zukunft zu üben. Vielleicht ist es da unvermeidlich, dass die Geometrie auf dem Platz noch nicht stimmt, weshalb der neue Torwart Przemyslaw Tyton sich schon zweimal in offenen Räumen in Laufduelle stürzen musste, die den Gegnern zwei Elfmeter und ihm eine rote Karte einbrachten. Es ist ein spannendes Duell, das da in Stuttgart gerade ausgetragen wird: Auf der einen Seite steht der VfB mit seinem ehrenwerten, seriös geplanten Projekt, in dem sich ständig Trainer, Scouts und Nachwuchsleiter zum Austausch treffen, in dem endlich nach einer gemeinsamen Idee gescoutet wird und alle Jugendteams denselben Stil spielen. Auf der anderen Seite steht mit einem höhnischen Grinsen die lästige Gegenwart, in der Dutt und Zorniger verhindern müssen, dass die Spieler vom Glauben abfallen - was passieren kann, wenn sie den entgangenen Luxusschlitten aus Schalke (Kostic), Leverkusen und Wolfsburg (Didavi) nachtrauern und beim eigenen Auto trotz neu entworfenen Regensensors schon wieder der Scheibenwischer abbricht.

Vier Niederlagen sind nie schön, aber für den VfB sind sie gerade besonders heikel. Sie holen die alten Geister zurück. Die Euphorie des gemeinsam geschafften Klassenerhalts, die Euphorie einer gelungenen Saisonvorbereitung, die Euphorie der Fans, die Dauerkarten- und Trikotverkaufsrekorde gebrochen haben: alles erst mal weg. "Das ist das Hauptproblem", sagt Dutt, "aufgrund der Vergangenheit gibt es eben noch diesen Rucksack, den im Misserfolgsfall alle sofort wieder spüren." Die mit negativer Energie aufgeladene Wolke, die jahrelang überm Stadion hing, ist noch nicht weit genug weggezogen, sie hing maximal überm Ostalbkreis. Jetzt bläst es sie wieder zurück Richtung Bad Cannstatt.

In Stuttgart können sie alles außer Punkte? "Kein Schwein kann uns garantieren, dass wir hier in vier Wochen blühende Landschaften haben", hat Trainer Zorniger am Freitag gesagt, aber gemeinsam mit Dutt will er sich nicht abbringen lassen von dem Plan, das neue Auto zu entwickeln. Der Gebrauchtwagen Huub Stevens ist in den Planungen eigentlich nicht mehr vorgesehen, und vielleicht trifft es sich ganz gut, dass Stevens, der inzwischen die Schalker berät, am Sonntag nicht im Stadion ist. Er wäre schon gern gekommen, aber am Sonntag kann er nicht. Am Sonntag wird seine Enkelin getauft.

© SZ vom 19.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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