Mediziner sind fassungslos über die Nada-Position. "Wenn die Sorgfaltspflicht nicht gewahrt wird, ist das ein Skandal und jede Spekulation über mögliche Resultate hinfällig", sagt Michael Amling, Professor für Osteologie am Hamburger Uni-Klinikum. Auch Sportrechtler Cherkeh versteht diese Haltung nicht. Er zweifelt die Glaubwürdigkeit des Anti-Doping-Kampfes in einem entscheidenden Punkt an. "Für zurückliegende Blutkontrollen stellt sich ab jetzt in jedem Einzelfall die Frage, ob die ermittelten Blutwerte aus Proben mit verfallenen Probenröhrchen stammen. Wenn dies der Fall ist oder sich dies im Einzelfall nicht mehr aufklären lässt, steht hinter jedem hämatologischen Labor-Ergebnis der insoweit betroffenen Athleten ein großes und nicht hinnehmbares Fragezeichen."
Dabei sind verschiedene Bluttests zu unterscheiden. Bei einem Teil gibt es einen Test unmittelbar auf verbotene Substanzen. Ein anderer Teil dient zum Aufbau des Blutpasses, mit dessen Hilfe die Verbände Abweichungen im Athletenblut erkennen wollen, die auf verbotene Substanzen hindeuten. "Dazu ist aber Grundbedingung, dass alle erhobenen und im Blutpass übernommenen Werte aus Proben stammen, die unter wissenschaftlich abgesicherten Bedingungen entnommen wurden", sagt Cherkeh. "Indirekte Nachweisverfahren sind wissenschaftlich ohnehin umstritten. Deshalb müssen die eingesetzten Verfahren zur Probengewinnung über alle Zweifel erhaben sein. Das scheidet hier aus."
Wer prüft morgens um sechs Uhr die Haltbarkeit?
Offenkundig gibt es das systematische Problem, dass niemand die Haltbarkeit prüft. Die Nada verweist darauf, dass Kontrolleur oder Athlet beim Test das Kit austauschen könnten, falls ihnen das Verfallsdatum auffällt. Doch welcher Athlet schaut sich morgens um sechs Uhr das Etikett auf der Packung oder das Datum auf dem Röhrchen genau an? Nach der Entnahme gibt es keine Prüfstelle mehr. Das Labor kontrolliert die Probe auf etwaige Transportschäden, aber schaut nicht mehr auf das Haltbarkeitsdatum des Röhrchens.
Die Wada sagt, im Ernstfall müsse bewiesen werden, dass die Verwendung eines alten Röhrchens die Probe beeinflusst habe. Damit liegt die Verantwortung beim Athleten. Der muss im Sportrechtssystem ohnehin beweisen, wie eine Substanz unabsichtlich in seinen Körper gelangte. Jetzt müsste er sich auch mit der korrekten Beschaffenheit des Proberöhrchens und anderer Dinge befassen.
Für Michael Amling ist das nicht nur unter sportrechtlichen Aspekten fragwürdig: "Wenn ich Patienten Blut abnehme und in ein Röhrchen tue, das abgelaufen ist, ist das Körperverletzung, weil es ohne Indikation geschieht. Legitim ist es, den Sportler zu testen, weil das aber mit abgelaufenem Röhrchen nicht zweifelsfrei möglich ist, bleibt hier der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit." Und damit, so Amling, ein Straftatbestand: "Da erübrigt sich jede Debatte."