Sprinter Julian Reus:Traum von 9,99 Sekunden

Lesezeit: 3 min

Sprintet er zu einer Medaille bei der EM: Julian Reus (Foto: dpa)

Wer wird schnellster Mann Europas bei der Leichtathletik-EM? Die deutschen 100-Meter-Sprinter um Julian Reus tasten sich in die Spitze vor - auch, weil sie sich von Prinzipen verabschiedet haben.

Von Johannes Knuth, Zürich

Neulich hat Julian Reus Ablenkung gesucht, Abstand von den letzten Vorbereitungen auf die Leichtathletik-EM in Zürich, die an diesem Dienstag beginnt. Reus schrieb seine letzte Klausur des Semesters, "zur Abwechslung", wie er ausrichtete. Das Thema war "International Business Law". Wenn alles gutgeht, darf sich der 26-Jährige demnächst Bachelor im Fach "International Management" nennen.

Es sind ereignisreiche Tage für den Studenten, denn Julian Reus ist zuletzt einigen Verpflichtungen als Leichtathlet nachgegangen. Vor kurzem hat der 26-Jährige bei den nationalen Meisterschaften in Ulm die 100 Meter in 10,05 Sekunden gewonnen, eine Hundertstelsekunde schneller als Frank Emmelmann bei seinem deutschen Rekord von 1985. Reus ist nun hauptberuflich der schnellste Mann der Nation, diese Tat war im öffentlichen Diskurs zeitweise an den Rand gedrängt worden durch die Debatte um Prothesen-Weitspringer Markus Rehm.

Doping in der Leichtathletik
:"Verlogene Szene"

Vor der Europameisterschaft in Zürich kritisiert Anti-Doping-Kämpfer Werner Franke den ungenügenden Kampf gegen Betrug. Allerdings ist dieser auch schwieriger geworden.

Von Lisa Sonnabend

Wenn die Sprinter am Mittwoch im Züricher Letzigrund den schnellsten Mann Europas ermitteln, zählt Reus zum Favoritenkreis. Er hat diese Rolle mit Verweis auf die starke Konkurrenz zwar immer wieder abgelehnt, doch nebenbei hatte Reus im Spiegel ausgerichtet: Die 9,99 Sekunden seien mittelfristig "machbar". Ein deutscher 100-Meter-Läufer unter zehn Sekunden? Das war jahrelang ungefähr so realistisch wie ein Bundesliga-Aufstieg des SC Paderborn.

Es hat sich einiges getan im deutschen Sprint. In Reus, Lucas Jakubczyk und dem derzeit verletzten Martin Keller verfügen sie im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) über mehrere Kandidaten, die einen Lauf jenseits der ominösen zehn Sekunden bewältigen können. Deutsche Sprintstaffeln produzieren bei Großereignissen zuverlässig vordere Platzierungen und Medaillen.

Verena Sailer war 2010 Europameisterin und reist mit der 4x100-Meter-Staffel als Titelverteidigerin an. Was auch der Tatsache geschuldet ist, dass sie im DLV vor einigen Jahren ihre Prinzipien justiert haben. "Uns war damals klar", sagt Sprint-Bundestrainer Ronald Stein, "wenn wir in die Weltspitze wollen, müssen wir etwas verändern."

2011, nach der Leichtathletik-WM im koreanischen Daegu, versammelten die DLV-Trainer ihre Biomechaniker. Sie studierten den Lauf von Weltmeister Yohan Blake, der in Größe und Statur den deutschen Sprintern gleicht. Fortan galt der Laufstil des Jamaikaners als Leitmotiv für die DLV-Läufer.

Bundestrainer Stein bemühte sich zudem um externe Fortbildungen. Seit 2010 reist er mit seinen besten Athleten jedes Frühjahr für rund sechs Wochen nach Florida, manche Athleten schießen bis zu 1500 Euro pro Reise dazu. "Aber bei 30, 35 Grad kann man hohe Intensitäten besser trainieren als bei 15 Grad in Deutschland", sagt Stein.

Der deutsche Trainerstab tauscht sich vor Ort mit den US-Kollegen aus. Zudem haben sie den Briten Tony Lester verpflichtet, der bis zu den Spielen in London 2012 für die erfolgreichen britischen Sprinter gearbeitet hatte. "Früher haben wir im eigenen Saft geschmort", sagt Stein, "der Blick nach außen hat uns gutgetan."

Am meisten davon hat anscheinend Reus. Wer sich im Sprint um Hundertstel verbessern will, muss viel arbeiten und tüfteln, wie bei einem Formel-1-Auto. Reus tüftelt gewissenhaft. Biomechaniker und Trainer haben seine Schritt- und Kniewinkel analysiert, Reus' Schrittlänge angepasst, spezielle Kraftübungen eingebaut. "Julian hat nie sein System über den Haufen geworfen. Er hat geduldig an den Winzigkeiten gearbeitet, die man auf dem Niveau noch verbessern kann", sagt Stein.

Ein deutscher Sprinter unter zehn Sekunden?

"Ich denke, das ist schon möglich", sagt Stein. "Nicht bei der EM, da geht es um Platzierungen und nicht um Zeiten, aber in ein, zwei Jahren ist das realistisch. Die Jungs glauben mittlerweile auch selbst daran", hat er beobachtet.

In Zürich werden die deutschen Starter Reus, Jakubczyk und Sven Knipphals zunächst einmal mit der Aufgabe ausgelastet sein, sich einen Finalplatz über die 100 Meter zu sichern. Der Franzose Jimmy Vicaut setzte in diesem Jahr die Referenzzeit (9,95 Sekunden), Titelverteidiger Christophe Lemaitre (10,12) kommt langsam wieder in Schwung. Die Briten um James Dasaolu (10,03) leisten sich sogar den Luxus, Chijindu Ujah, ihren schnellsten Mann des Jahrs (9,96), nur in der Staffel aufzubieten.

Reus hat sich via Facebook beschwert

Nach den erfolgreichen Spielen von London 2012 investieren sie auf der Insel weiter kräftig in die Medaillenproduktion, maßgeblich finanziert von ihrer staatlichen Lotterie. Auch andere Nationen subventionieren mit Vorliebe ihre Sprinter. Bereits das Etikett "Schnellster Mann Europas" verspricht Aufmerksamkeit, Werbegelder, Startplätze bei großen Meetings.

Der Weg dorthin ist lang. Neulich hat sich Reus per Facebook beschwert, dass jene Startfelder bei den großen Läufen bevölkert sind von Sprintern mit teils ausdauernder Dopingvergangenheit. Gewisse Zweifel sind in der Leichtathletik, vor allem im Sprintsektor, grundsätzlich angebracht. Reus verweist allerdings - zu Recht - auf seine Formkurve, die über die Jahre in gemäßigtem Tempo angestiegen ist. "Meine Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen", sagte der 26-Jährige zuletzt, das darf man angesichts der sich ändernden Altersstrukturen im Sprint als Versprechen auffassen. Alexander Kosenkow, ältester deutscher Sprinter in Zürich, ist 37 Jahre alt.

© sueddeutsche.de/jkn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: