Spaniens Tabellenführer Girona:Auf den Spuren von Oma María

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Kaum zu stoppen: Der FC Girona stürmt gerade - wie hier Yangel Herrera (links) - durch Spaniens Liga. (Foto: Angel Martinez/Getty Images)

Der FC Girona ist die größte Überraschung in den großen Ligen des europäischen Fußballs. Der Erfolg des spanischen Tabellenersten hat viel mit dem charismatischen Trainer Míchel zu tun, aber auch mit cleveren Transfers. Und auch Abu Dhabi mischt mit.

Von Javier Cáceres, Berlin

Am Samstag schaute der Trainer Miguel Ángel Sánchez Muñoz alias "Míchel" auf die Stehtribüne des Stadions im Madrider Stadtviertel Vallecas, das von den "Bukaneros" bevölkert wird. Er war ergriffen, dankbar und stolz. Die "Bukaneros" - die linksradikalen Ultras des Erstligisten Rayo Vallecano - hatten ein Transparent ausgebreitet, das Míchels Familiengeschichte und Herkunft betraf. "Míchel, Enkel der María: Willkommen im Viertel", stand dort geschrieben. La María ist in Vallecas eine Bezugsperson, weil sie als Gemüsehändlerin anschreiben ließ, wenn bei den Kunden das Geld knapp war; sie selbst kannte solche Situationen ja nur zu gut.

Später, als die Partie vorüber war und er den Platz wieder verließ, blieb Míchel lange vor den "Bukaneros" stehen und nahm nicht nur Ehrbekundungen entgegen, sondern versuchte, durch Gesten das auszudrücken, was er kurz darauf mit einem immer wiederkehrenden Wort in der Pressekonferenz sagen sollte: "Gracias."

Die Szene war auch deshalb bewegend, weil Míchel, 48, schon lange nicht mehr bei Rayo Vallecano angestellt ist (er war dort einst Spieler und Trainer), sondern beim Gegner vom Samstag - und mit ebendieser Mannschaft die drei Punkte aus dem Arbeiterviertel Vallecas entführt hatte. Welches sein Team ist? Der FC Girona, die aktuell größte Überraschung der großen Ligen des europäischen Fußballs. Das Saisonziel war, sich in der Primera División zu etablieren. Das Ziel darf schon jetzt als erreicht gelten.

Kann mehr als zufrieden zurzeit sein: Trainer Míchel vom FC Girona. (Foto: Oscar del Pozo/AFP)

Girona hat in dieser Saison 34 von 39 möglichen Zählern geholt, 31 Tore geschossen (und 16 kassiert), fünf Mal ein Spiel gedreht - und sechs Mal in Serie auswärts gewonnen. So wie am Samstag, als man in Vallecas früh zurücklag (Álvaro, 5. Minute) und durch Artem Dovbyk (42.) und Sávio (65.) doch noch zum Sieg kam. Girona verteidigte damit nicht nur die Tabellenführung - das zweitplatzierte Real Madrid hat nach dem 5:1 gegen den FC Valencia zwei Punkte Rückstand -, sondern baute den Puffer auf den fünften Platz auf zwölf Zähler aus. Eine Champions-League-Qualifikation ist mithin möglich. Oder geht gar mehr?

Der FC Girona erinnert in Spanien schon länger an Leicester City - die Mannschaft also, die 2016 die Premier League gewann und zum Synonym für Cinderella-Meisterteams wurde. "Wenn wir träumen, träumen wir vom Maximum", sagte Míchel am Samstag, als er das Fußballmärchen Girona um ein neues Kapitel erweiterte.

Girona war vor allem für das Restaurant El Bulli berühmt - nicht aber für Fußball

Berühmt war Girona, eine Provinzhauptstadt Kataloniens, nie wegen des Fußballs, sondern wegen seiner vier Flüsse, der Schönheit seiner Gassen und, wenn die Rede auf den Sport kam, wegen des Basketballs. In der Saison 2006/07 war hier ein gewisser Svetislav Pesic als Trainer tätig. Auch die Gastronomie spielt in Girona eine große Rolle; Ferran Adrià brachte es in der zu Girona gehörenden Stadt Roses zu Weltruhm. Sein Restaurant El Bulli war vor der Schließung auf Jahre hinaus ausgebucht. Nun ist ein anderes Lokal zumeist randvoll: das Stadion "Montilivi", das rund 14 000 Zuschauern Platz bietet und nahezu ausgelastet ist, wenn alle 13 000 Vereinsmitglieder vorbeischauen.

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Zu ihnen zählt auch Kataloniens früherer Regierungschef Carles Puigdemont, der im belgischen Exil lebt, weil ihm Spaniens Justiz seit Jahren nachstellt, und gerade dennoch eine wichtige Rolle bei der Bildung der künftigen spanischen Regierung spielt. Die Sozialisten brauchen die Unterstützung der katalanischen Separatisten, die vergnügt registrieren dürften, dass der fútbol made in Girona nicht nur ästhetisch den FC Barcelona aussticht, sondern gleich den Fußball des spanischen Staates regiert. Denn Girona ist eine Hochburg des bürgerlichen, katalanischen Separatismus.

Das ist umso verblüffender, als der FC Girona vor gut einem Jahr noch Tabellenvorletzter war und im Sommer die Schlüsselspieler einer Mannschaft abgab, die sich nach einer sagenhaften Aufholjagd fast noch für die europäische Conference League qualifiziert hatte. Santiago Bueno spielt nun für Wolverhampton, Oriol Romeu beim FC Barcelona, Stürmer Valentín Castellanos, der im April vier Tore gegen Real Madrid schoss, ist bei Lazio Rom aktiv.

Auch der Bruder von Pep Guardiola mischt im Hintergrund mit

Der FC Girona ist zwar Teil der "City Football Group" (CFG), der vom Triple-Sieger Manchester City angeführten Holding, der weltweit ein Dutzend Klubs gehören. Die CFG stieg 2017 ein und hält aktuell 47 Prozent, der Rest ist (mit Ausnahme von einem kleinen Anteil in der Hand von Kleinaktionären) in den Händen des bolivianischen Multimillionärs Marcelo Claure (35 Prozent) sowie Pere Guardiola (16 Prozent), dem Bruder von City-Trainer Pep Guardiola. Doch trotz des Geldes der CFG-Eigner aus Abu Dhabi durchforstet Sportdirektor Quique Cárcel die unteren Regale des Transfermarkts.

Die Ablösesummen der Startelf vom Samstag summierten sich auf gerade einmal 20,2 Millionen Euro, davon entfielen allein 7,7 Millionen Euro auf Stürmer Dovbyk (SC Dnipro-1). Das Gros des Kaders kam ablösefrei, darunter Ex-Bayern-München-Profi Daley Blind oder Stürmer Sávio, der bei seinen vorherigen Stationen PSV Eindhoven (Niederlande) und ES Troyes (Frankreich) niemals auf die 13 Saisonspiele und vier Tore kam, die er jetzt schon hat. Von wegen Filiale: Beim Triple-Sieger Manchester City wurden aktuell nur zwei Spieler ausgeliehen.

Ihre Entwicklung spricht Bände über Míchels Arbeit. Und über das Vertrauen, das in ihn gesetzt wurde, als der Abstieg zu drohen schien. "Bist du überzeugt, dass er der Richtige ist?", fragte Guardiola Manager Cárcel - und beendete jede Diskussion, als Cárcel bejahte. Mit dem Effekt, dass Míchel in Girona bald so unvergessen sein wird wie Großmutter María in Vallecas.

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