Spanien bei der Fußball-WM:Die Augen glänzen anders

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Immer noch dabei: Spaniens Fernando Torres. (Foto: REUTERS)

16 Weltmeister von 2010 stehen in Spaniens Nationalmannschaft. Trainer Del Bosque will das bewährte Gefüge halten. Doch hätte die Siegergeneration um Xavi, Iniesta und Torres nicht eine Auffrischung nötig?

Von Javier Cáceres

Von wegen: Ästhetik, Anmut, Fußballkunst! Es gibt auch andere Kategorien. Die Kategorie des Rumpelspaniers zum Beispiel, um Franz Beckenbauer zu paraphrasieren. Joan Capdevila, 36, zuletzt beim RCD Espanyol Barcelona aktiv, würde sich sogar unbedingt dazuzählen, es fällt ihm nicht mal das kleinste Zäcklein aus der Krone. Angeblich jedenfalls.

"Ja, ich bin ein tuercebotas", soll er einmal von sich selbst gesagt haben. Und als man ihn darauf anspricht, behutsam, weil man doch gerade seinen Gesichtsausdruck nicht sieht und nicht weiß, ob er nicht vielleicht doch noch beleidigt das Telefon wieder auflegt, nachdem man zwei Tage lang nach ihm gefahndet und fernmündlich erfahren hatte, wie er die Kinder von der Schule abholte und mit Freunden an der Bar Tapas aß - als man ihn also darauf anspricht, gesteht er freimütig ein, dass er das sehr wohl gesagt hat. Oder so ähnlich, wer weiß schon, was er je mal von sich selbst gesagt hat: "Mir ist wohl bewusst, dass ich als tuercebotas gelte."

Tuercebotas ist ein Fantasiewort, das ziemlich genau Stiefelverdreher bedeutet. Rumpelfüßler, bloß auf Spanisch. "Es ist doch so: Ohne Xavi und Iniesta", die beiden künstlerisch veranlagten Mittelfeldspieler vom FC Barcelona also, "wäre ich doch niemals Welt- und Europameister geworden", sagt Capdevila, "sie haben mich nicht so schlecht aussehen lassen, wie ich eigentlich bin." Und: "Zu Xavi habe ich immer gesagt, dass ich ihm den Ball nur unter einer Bedingung gebe: dass er ihn mir auf gar keinen Fall zurückgibt. Unter keinen Umständen." Capdevila lacht.

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Es stand wohl tatsächlich nirgends geschrieben, dass ausgerechnet Joan Capdevila, zuletzt bei seinem Herzensverein Espanyol, zuvor unter anderem beim FC Villarreal, Atlético Madrid und Deportivo La Coruña aktiv, Teil der sagenhaftesten Fußballergeneration werden würde, die Spanien je hervorgebracht hat. Er war ein Erfüllungsgehilfe, ein Komparse, der für die historischen Großtaten der Spanier vor allem deshalb unverzichtbar war, weil Fußballmannschaften laut Regelwerk aus elf Spielern bestehen. Nicht aus zehn. In den kollektiven Erinnerungsbildern droht Joan Capdevila dennoch unterzugehen, weil man ja doch nur die im Lichte sieht, und die heißen nun mal Iker Casillas, Sergio Ramos, Piqué, Villa, Torres, Iniesta oder eben Xavi.

Oder erinnern Sie sich an Capdevila?

Er war nur irgendwie da, und das eigentlich auch nur deshalb, weil er zu einer Zeit, in der Spanien hochwertige Mittelfeldspieler im Überfluss hatte, der mehr oder minder letzte Linksverteidiger war, der im ganzen Königreich zu finden war. "Ich hatte auch weiter vorne angefangen", sagt er, wenn er an die Zeit bei UE Tàrrega, dem Klub seines gleichnamigen Geburtsortes in Katalonien, zurückdenkt. "Aber dann landete ich immer weiter hinten." Nun ist er gar nicht mehr dabei.

Capdevila ist damit einer von elf Spielern aus dem EM-Kader von 2008, die gar nicht mehr dabei sind. Vicente Del Bosque, der Nationaltrainer, weist gerne darauf hin, dass er seit jenem Finalsieg von 2008 knapp die Hälfte der Mannschaft ausgetauscht hat. Seht doch her, die Revolution existiert, scheint Del Bosque damit sagen zu wollen, in der ihm eigenen subtilen Art. Weil er genau weiß, dass die prägenden Gestalten eben doch diejenigen sind und bleiben, die 2008, 2010 und 2012 auf den Siegerpodesten von Wien und Johannesburg und Kiew zu sehen waren, und nun in den Bars in Spanien von vergilbenden Postern grüßen. "Dies ist eine goldene Generation, und ich halte es für völlig natürlich und unverzichtbar, so lange wie möglich auf sie zurückzugreifen", sagt Capdevila.

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Del Bosque hat sich tatsächlich der Kontinuität verschrieben, gemäß seinem konservativen Naturell. Für die WM in Brasilien hat er nun 16 Spieler nominiert, die schon 2010 in Südafrika dabei waren; hätten sich Außenstürmer Jesús Navas und Torwart Víctor Valdés nicht verletzt, so wären sogar 18 Weltmeister Teil der Brasilien-Expedition gewesen. 16 von 23 - sind das zu viele aus der alten Garde? "Bei Retuschen muss man vorsichtig sein, und Del Bosque ist es aus guten Gründen", findet Capdevila. "Wir haben eine grandiose Basis, die schon seit Jahren zusammenspielt und die man nicht einfach so auseinanderreißen sollte." Vor allem dann nicht, wenn man sich auf den Plätzen Spaniens umschaut und doch niemanden findet, der wirklich entscheidend besser wäre als die 23 Erwählten, von denen 18 auch bei der EM 2012 dabei waren.

Nur: Ist das dem Ziel dienlich, den Titelerfolg zu wiederholen? Wer bemisst die Halbwertzeit einer Siegergeneration - und woran? Ist Siegeshunger messbar? Johan Cruyff, als früherer Trainer des FC Barcelona in vielfacher Hinsicht der Übervater der spanischen Nationalelf, pflegte die "Heiligen Kühe", wie er die Honoratioren bei Barça gerne nannte, immer wieder höchstpersönlich zur Schlachtbank zu führen. Denn er wusste, dass es unabdingbar ist, die Grenzen der handelsüblichen Motivation zu sprengen, um auf höchstem Niveau Erfolge einzufahren. Auch Del Bosque hat die Symptome des Hungers nicht vergessen, die unnachahmlichen Blicke aus jener Zeit, in der sich das Land noch fragte, wann es endlich mal einen internationalen Titel auf Nationalmannschaftsebene zu feiern gäbe. Als das Land, das bereits in der Schleife der Wirtschaftskrise hing, nach einem Moment des Glücks lechzte. "Ich glaube schon, dass die Augen meiner Spieler anders glänzen als vor ein paar Jahren", sagt Del Bosque. Doch welche Konsequenzen man daraus ziehen muss, ist alles andere als klar.

Zumindest gibt die Geschichte keine belastbaren statistischen Wahrheiten her. Nur zwei Länder haben es überhaupt je vollbracht, einen WM-Titel erfolgreich zu verteidigen: Italien 1938 in Frankreich, Brasilien 1962 in Chile. Die Italiener hatten 1938 nur drei Spieler (und ihren Trainer Vittorio Pozzo) dabei, die schon 1934 in Italien Weltmeister geworden waren, hingegen traten die Brasilianer 1962 mit 14 Spielern an, die in Schweden 1958 den Titel geholt hatten - unter ihnen Edson Arantes do Nascimento alias Pelé (der übrigens als einziger des 58er-Kaders auch noch in Mexiko 1970 dabei war). Andere Zeiten? Wohl wahr: Frankreich scheiterte 2002 als Titelverteidiger mit 13 Weltmeistern von 1998 sieglos in Runde eins; Brasilien ging bei der WM in Deutschland 2006 mit neun Weltmeistern im Viertelfinale gegen den späteren Finalisten Frankreich unter. Italien hatte 2010 die Belegschaft noch etwas gründlicher ausgewechselt - und scheiterte mit acht Weltmeistern als Vorgruppenletzter. Kläglich.

Solche Daten nähren in Spanien "einen gewissen Fatalismus", wie die Zeitung El País feststellt. Einen gewissen Fatalismus, weil er sich unbemerkt wie Seelenschmerz über das Land gelegt hat. Denn dass die Gussform der spanischen Nationalelf, der FC Barcelona, ein titelloses Jahr hinter sich hat und in eine Krise stürzte, wurde von dem Umstand übertüncht, dass die internationale Dominanz der Spanier auf Vereinsebene just in diesem Sommer eine neue Dimension erreichte.

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Der FC Sevilla holte die Europa League (nach einem Finalsieg gegen Benfica Lissabon), vor allem aber standen Real Madrid und der spanischen Meister Atlético Madrid im Champions-League-Finale. Doch dieser Erfolg hat nur bedingt eine bestätigende Wirkung. Die beiden Mannschaften aus Madrid frönen in unterschiedlicher Intensität dem Konterspiel - und stellen gewissermaßen den Gegenentwurf zum ballbesitzorientierten Spiel Barcelonas (und des FC Bayern von Pep Guardiola) dar. Erfolge von Gegenmodellen lösen gemeinhin Identitätskrisen aus.

Doch ausgerechnet das soll diesmal anders sein, sagt Capdevila. "Zweifel am Stil? Überhaupt nicht. Wir spielen seit Jahren das gleiche System. Die Spieler sind daran perfekt gewöhnt." Nur sind ebendiese Spieler in die Jahre gekommen. Vor allem der unbestrittene Hohepriester des bisherigen Stils, der Papst unter zahllosen Kardinälen, Xavi Hernández. Sein Verfall ist so augenscheinlich, dass sein künftiger Trainer beim FC Barcelona, Luis Enrique, bereits öffentlich Gesprächsbedarf angemeldet hat. Thema: "Wie es weitergehen soll." Und er lässt den Ausfall von Thiago Alcántara (FC Bayern) in einem noch viel dramatischeren Licht erscheinen.

Zwar ist Xavi nie ein Spieler gewesen, der von der physischen Explosivität gelebt hätte, er ist eher ein Diesel-Typ. Seine Geschwindigkeit auf dem Platz lässt sich anhand von Hirnfrequenzen messen, nicht mit einer Stoppuhr in der Hand. Andererseits: Körperlos war sein Spiel nie, Xavi legt pro Spiel auf engem Radius gehörige Strecken zurück. "Nichts ist ewig, auch Xavi nicht", sagt Capdevila, "aber er gehört zusammen mit Iniesta, Xabi Alonso oder Villa, um nur einige zu nennen, zu den Spielern, die ich weiterhin als absolut unverzichtbar bezeichnen würde. Als unersetzlich. Unwiederholbar", sagt Capdevila.

Immerhin steht die Abwehr, sie war schon bei aller Begeisterung für das Offensivspiel der Spanier der eigentliche Garant der zurückliegenden Triumphe. Und vielleicht ist das größte Problem nicht mal der Stil oder, stellvertretend dafür: Mittelfeldstratege Xavi. Sondern das Dilemma, dass in Spanien niemand so recht weiß, wer für die Tore garantieren soll. David Villa, der zum EM-Titel 2008 vier und zum WM-Titel 2010 fünf Tore beisteuerte, hat sich bereits entschlossen, seine Karriere nach der WM in den Vereinigten Staaten ausklingen zu lassen; Fernando Torres, der bei der EM 2012 immerhin drei Treffer erzielte, hat beim FC Chelsea ein komplexes Jahr hinter sich.

Diego Costa, der aus Brasilien eingebürgerte Stürmer von Atlético Madrid, plagt sich mit Muskelproblemen herum - und hat überdies noch nicht bewiesen, dass er für das Spiel ohne Räume prädestiniert ist. Die Option, ohne "echten Mittelstürmer" zu spielen, also mit sechs Mittelspielern zu agieren, hat Spanien oft mit Erfolg erprobt. De facto ist Spaniens Kader einer der torgefährlichsten. Die 20 Feldspieler kommen zusammen auf 218 Länderspieltore; aus dem Kreis der Titelfavoriten kommt nur Deutschland auf mehr (219). Doch eine Garantie dafür, dass Spanien dereinst den Finaltag von Rio de Janeiro in gleicher Erinnerung behalten wird wie Capdevila den Finaltag von Johannesburg, ist das nicht.

"Es war ein unglaublicher Tag", sagt er, "auf dem Weg vom Hotel zum Stadion hörte man niemanden atmen. Alle wussten, wie viel auf dem Spiel stand: Der Traum deines Lebens. Der Traum, den wir alle geträumt hatten. Ich weiß noch, dass meine Haare sich genau in dem Augenblick spitz aufstellten, als ich das Stadion erblickte. Und dass dieses Gefühl nicht mehr wegging. Sondern dass es mir, mit jedem Meter, den der Bus zurücklegte, schwerer fiel zu atmen. Dass mein Körper paralysiert war, als ich dann - am Pokal vorbei - auf den Platz ging." Die Erinnerung daran, sagt Capdevila, ist eine Gewissheit, der Blick in die Zukunft ein großes Fragezeichen. "Was Spanien bei der WM machen wird? Für mich ist das eine völlige Unbekannte", sagt er. Er meint das unzweifelhaft ernst.

© SZ vom 04.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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