Snowboard:"Wer hätte uns das damals zugetraut?"

Lesezeit: 4 min

"Sich von den Großen motivieren lassen und was Eigenes daraus machen: Das ist das Coole am Snowboarden", sagt Noah Vicktor. (Foto: Huter/Eibner/Imago)

Snowboarder Noah Vicktor ist Teil einer deutschen Mannschaft, die sich mit Beharrlichkeit in die Weltspitze gekämpft hat. Der 21-Jährige Freilassinger hat für seinen Traum sogar das Gymnasium aufgegeben - was sich nun auszahlt.

Von Thomas Becker

Als Snowboarden in Deutschland begann, an Bedeutung zu gewinnen, war Noah Vicktor 369 Tage alt. Dass der Freilassinger mal zu den Medaillenhoffnungen des am 22. November 2002 gegründeten Verbands Snowboard Germany zählen würde, war natürlich noch nicht absehbar. Genauso wenig hätten sich die Verantwortlichen träumen lassen, dass sie 20 Jahre später mal in einem Münchner Club bei einer Jubiläumsfeier auf sieben olympische und 25 WM-Medaillen zurückblicken würden. Sportdirektor Andreas Scheid, Mann der ersten Stunde, schüttelt fast ungläubig den Kopf: "Wir sind die Nummer zwei der Welt, haben schlagkräftige, professionell agierende Teams in allen Disziplinen am Start. Wer hätte uns das damals zugetraut?"

1998, als in der Halfpipe erstmals olympische Snowboard-Medaillen vergeben wurden, gewann Nicola Thost Gold, vier Jahre später war kein Deutscher in den Top Ten. Inzwischen kommen sie an einem handelsüblichen Weltcup-Wochenende mit den Erfolgsmeldungen nicht mehr hinterher: Schon wieder ein Podium für Martin Nörl, den Gesamt-Weltcupsieger im Boardercross! Rang zwei für Ramona Hofmeister, Gesamt-Weltcupsiegerin bei den Racern! Top-Ten-Plätze für Leilani Ettel und Christoph Lechner in der Halfpipe!

Und es sind nicht immer dieselben, die oben stehen: Mal gelingt Elias Huber der Durchbruch, mal meldet sich Cheyenne Loch in der Weltspitze zurück, und zum Saisonauftakt flog Vicktor, Freestyler vom WSV Bischofswiesen, auf Platz vier - vor 20 000 Fans beim Big Air in Chur. "Ich war sehr motiviert, weil ich wusste: Das ist ein richtig krasses Event", erzählt er. Am Tag zuvor hatte er sich das Freeski-Event und die Gigs von K.I.Z., Busta Rhymes, Deichkind und Kraftklub angeschaut und gewusst: "Ich muss es hier ins Finale schaffen!" Hat geklappt: beste Weltcup-Platzierung seit dem Debüt im Januar 2019 - und ein Jubel, der ihm in Erinnerung bleiben wird: "Wenn du den Trick landest und unten raus fährst, merkst du erst, wie krass es abgeht. Du realisierst gar nicht, dass die gerade alle für dich jubeln. Ein Mega-Gefühl." Und beste Motivation für kommende Taten.

2002 wurde der Snowboard-Verband gegründet, 20 Jahre später gibt es kein Weltcup-Wochenende ohne Erfolgsmeldung mehr

"Noah ist in der Weltspitze angekommen, aber die ist hart umkämpft", sagt Michael Dammert, der Disziplinverantwortliche Freestyle bei Snowboard Germany. Die Erfahrung machte Vicktor bei den Weltcups in Edmonton und Copper Mountain: Mit den Plätzen 42 und 26 verpasst er das Finale der besten Zehn, wie auch Teamkollege Leon Vockensperger (SC Rosenheim), der auf Rang 19 und 36 landet. Ergebnisse, die Dammert so einordnet: "Der Vocki kommt langsam zurück. In Edmonton hat er das Finale knapp verpasst. Da haben wir auf Sicherheit gespielt, damit er sich nicht nochmal verletzt. Er hatte in dem Jahr schon zwei Schulterverletzungen. Wir gehen das ganz bewusst langsam an, Stichwort Athleten-Gesundheit." Auch Slopestylerin Annika Morgan und Pipe-Fahrer André Höflich bekommen eine strategische Pause Richtung WM im Februar: "Das muss man sich als Trainer manchmal trauen", sagt Dammert, "Pausen und Regeneration gehören zu einer langfristigen Karriere auch dazu." So etwas müsste man mal den Terminplanern der Hand- und Basketballer sagen.

Dass ihn das Brett mehr reizt als die Ski, merkte Vicktor mit acht, als er anfing, den Youtube-Videos des Norwegers Torstein Horgmo nachzueifern: "Der hat früh Geschichte geschrieben. Diese Individualität! Das hat mich motiviert, das gleiche Leben zu leben. Sich von den Großen motivieren lassen und was Eigenes daraus machen: Das ist das Coole am Snowboarden. Du bist Herr über deinen Run - das ist einzigartig. Wir haben eine sehr besondere Sportart."

Und wenn man dem Bundestrainer zuhört, ist dieser junge Mann auch recht besonders: "Der Noah ist fast ein Tiefstapler. Kein Show-Man, sondern ein Bescheidener, Vernünftiger, Verantwortungsbewusster. In der Ruhe liegt die Kraft - aber dann haut er einen raus." Beim Herbst-Training im Stubai habe er "den 18er gelernt", erzählt Dammert, "fünf Schrauben: Das können etwa ein Dutzend Leute. Er hat ihn noch nicht so sicher, dass er ihn im Wettkampf schon gezeigt hätte. Das ist die Hoffnung, dass es zur WM so weit ist." Es wäre die Krönung eines lang gehegten Plans: "Noah ist schon seit zehn Jahren bei uns, gehört zu den Ersten, die dieses Programm von Kindesbeinen an durchlaufen haben." In der Halfpipe gab es das schon länger, im Slopestyle erst, seit es 2014 olympisch wurde.

"Irgendwie muss man herausstechen. Das ist schon zäh." - Noah Vicktor. (Foto: Oliver Lerch/Gepa Pictures/Imago)

Seitdem hat sich die Szene rasant entwickelt. "Es wird immer enger", sagt Vicktor, "immer mehr Leute können die gleichen Tricks. Irgendwie muss man da herausstechen. Das ist schon zäh." Grund für die Leistungsdichte sind Air Bags, aufblasbare Riesenluftkissen, die die teilweise halsbrecherische Akrobatik sicherer machen. In Deutschland gibt es kein einziges dieser Art, so dass die Boarder vom Stützpunkt in Berchtesgaden zu einer Anlage nach Scharnitz pendeln: 200 Kilometer hin, 200 zurück.

Seit sechs Jahren kämpft der Verband um die paar Quadratmeter Plastik, im Frühjahr soll es so weit sein. 150 000 Euro kostet das Luftkissen, mit Erdbewegungen ist rund eine Million fällig. Auch die Standortsuche sei komplexer, als man denkt, erzählt der Bundestrainer. Am Stützpunkt am Götschen legten Landwirte ihr Veto ein: Das störe die Kühe. Und wer haftet, wenn eine Kuh das Kissen zerstört? Nun wurde am Ski-Internat ein Platz gefunden, neben der Trampolinhalle und dem Skateboardpark. Dammerts Vision: "Mit diesem Luftkissen könnten wir die Sportart massentauglicher machen."

Für Noah Vicktor kommt der Air Bag zu spät. "Für ihn wäre das mega gewesen, denn er hat einen Riesenschritt gemacht, seit er die Schule beendet hat", sagt Dammert. Mit 16 ging Vicktor mit Realschulabschluss vom Gymnasium ab und zur Landespolizei, um sich auf den Sport zu konzentrieren. Dammert: "Noah ist ein Denker, sehr strukturiert. ,Wenn ich noch Abi mache, ist der Zug abgefahren.' Das war ein Knackpunkt. Er hatte einen weiten Schulweg, war ständig krank, einfach nicht so fit." Und jetzt? Kann er nicht genug kriegen.

Nach Olympia gab der Verband den Athleten lange trainingsfrei - und was machte Vicktor? Fuhr mit Teamkollege Leon Gütl auf eigene Faust nach Neuseeland - um mit seinem Kumpel zu trainieren. "Eine Aushänge-Freundschaft", schwärmt der Coach, "die kennen sich von klein auf." Wenn sie früher im Europacup zusammen fahren konnten, wurden sie immer Erster und Zweiter - und wechselten sich dabei schön ab.

Bei Olympia war Gütl Ersatzfahrer - und Personal Coach von Vicktor. "Da kann ich mich zurücklehnen, weil die zwei sich gegenseitig so gut tun", sagt Dammert. Sorgen muss man sich um Noah Vicktor wirklich nicht. Mit 21 umreißt er sein Karriereziel so: "Das Beste aus sich rausholen. Man kann bei den Events noch so gut fahren: Wenn man mit der eigenen Leistung nicht zufrieden ist, bringt es dir auch nichts."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: