Snowboard:Plötzlich Favorit

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Im vergangenen Winter allen voraus: Martin Nörl (gelbe Hose) wird sich strecken müssen, um beim Saisonauftakt mit der Weltspitze mitzuhalten. (Foto: Ilya Naymushin/Imago)

Martin Nörl hat im Jahr 2022 alle bisherigen Rennen gewonnen. Erklären kann er sich diese Erfolgsserie selbst nicht. Aber für Peking lässt sie nun einiges erhoffen.

Von Thomas Becker

Martin Nörl weiß doch auch nicht, was plötzlich mit ihm los ist. Seit zwölf Jahren fährt der zweifache Familienvater nun schon im Weltcup mit, aber so was wie in den vergangenen Wochen ist ihm noch nie passiert: drei Siege in Serie, innerhalb von nur 21 Tagen, im Jahr 2022 hat außer ihm noch überhaupt niemand einen Boardercross-Weltcup gewonnen. In all den Jahren zuvor hat der mittlerweile 28-jährige Sportsoldat erst ein einziges Mal ganz oben auf dem Stockerl gestanden, im Dezember 2018 in Cervinia, unterhalb des Matterhorns. Ähnlich massiv wie das wohl ikonischste Stück Fels der Alpen sind nun vor dem Saisonhöhepunkt die Erwartungen und Hoffnungen, die in den Mann von der DJK-SV Adlkofen gesteckt werden: Wer im gelben Trikot des Führenden im Gesamtweltcup zu den Olympischen Spielen reist, dem haftet natürlich das Label "Favorit" an.

Selber schuld. Wer sich wie Nörl beim Nachtrennen in Cortina d'Ampezzo nur im Viertelfinale - vom spanischen Weltmeister Lucas Eguibar - schlagen lässt, um dann aber der versammelten Konkurrenz sowohl im Halb- als auch im großen Finale keine Chance zu lassen, der muss nun halt sehen, wie er in Peking mit der Favoritenbürde umgeht. Auch von der eisigen Piste unterhalb des Monte Cristallo ließ sich der Niederbayer nicht am Schon-wieder-Gewinnen hindern. Freche Überholmanöver auf der Innenbahn und eine überragende Carving-Technik in den Kurven machten genau wie schon zwei Wochen zuvor im russischen Krasnojarsk den Unterschied und bescherten Nörl nach diesem fehlerlosen Auftritt den Tagessieg vor dem dreifachen Gesamtweltcupsieger Alessandro Hämmerle aus Österreich.

Erklären kann diese so imposante wie seltene Siegesserie einer am allerwenigsten, und das ist Martin Nörl: "Was soll man sagen, wenn man drei Rennen hintereinander gewinnt? Das ist der absolute Wahnsinn", gibt er zu Protokoll, "ich weiß auch nicht, was gerade abgeht." Wenigstens den Hauch einer Erklärung findet der auf angenehme Weise so gar nicht zur Selbstdarstellung neigende Sportsmann dann aber doch noch: "Wir hatten wieder richtig gutes Material, ich konnte meine Gleitfähigkeiten auf der Strecke voll ausspielen und hatte zum Schluss auch das nötige Quäntchen Glück. Ich hoffe, das bleibt auch die nächsten zwei Wochen noch auf meiner Seite. " Bei Olympia, seinen zweiten Spielen nach 2018 in Pyeongchang, wo er Achter wurde.

Doch es ist ja nicht nur Martin Nörl, der in diesem Winter auf dem Snowboarden aufhorchen ließ. Noch nie ist das Team Snowboard Germany mit größerer Besetzung zu Olympia gefahren: "Erstmals 15 Athleten und Athletinnen bei den Spielen am Start zu haben, macht mich sehr stolz", sagt Sportdirektor Andreas Scheid, "vor allem die Ausgewogenheit über alle Disziplinen hinweg ist ein großer Erfolg für unsere konsequente Arbeit in den vergangenen Jahren."

Nach den Spielen 2018 ließ er sich ein Tattoo stechen - aus Frust und Perspektivlosigkeit

Wohl wahr: Sowohl im Boardercross (vier Starter) als auch in den Disziplinen Race (sechs Starter), Halfpipe (zwei) sowie Slopestyle/Big Air (drei) haben deutsche Boarder in dieser Weltcupsaison reichlich Podiumsplätze gesammelt, sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern. In diesem Jahr feiert der Verband sein 20-jähriges Bestehen - und verzeichnet immer mehr Zuwachs und Zuspruch. Aus der einstigen Unterabteilung des Deutschen Skiverbandes (DSV) hat sich ein stetig prosperierender Verband entwickelt. Die Bilanz der vergangenen Saison: drei WM-Medaillen, drei Medaillen bei Juniorenweltmeisterschaften, der Gesamtweltcupsieg von Racerin Ramona Hofmeister und zig Podestplätze haben Deutschland zur drittstärksten Snowboard-Nation der Welt über alle Disziplinen hinweg gemacht - ein Trend, der sich in diesem Winter verstärkte. Mindestens genauso wichtig: Im Vergleich zu manch anderen Wintersportarten muss man sich keine Sorgen um den Nachwuchs machen.

Seit 1998 gehören die Snowboarder zum olympischen Programm, damals holte Nicola Thost gleich mal Gold in der Halfpipe. Dass Martin Nörl nun ebenfalls ein Goldkandidat ist, wird ihn selbst am meisten überraschen. Nach den Spielen 2018 ließ er sich ein Tattoo auf die Innenseite des Oberarms stechen: die fünf Olympischen Ringe, die Zahl acht für seinen achten Platz und SBX für Boardercross. Aus purer Freude ließ er sich die Tinte aber nicht in die Haut jagen, sondern aus Frust und Perspektivlosigkeit. Sein erstes Kind war gerade auf die Welt gekommen, Sinnfragen krochen ihm in den Kopf, und dann wird es für jeden Sportler schwierig. Allein: Er fand auch Antworten. Und formulierte ein Ziel: "Wenn ich vier Jahre später wieder bei Olympia am Start stehe, will ich sagen können: Ich bin besser als damals." Das dürfte schon mal geklappt haben. Eine Garantie auf eine bessere Platzierung als 2018 ist das in diesem so rasanten wie unberechenbaren Spektakelsport natürlich noch lange nicht.

Das Medaillenhalten kann er: Martin Nörl nach seinem Weltcupsieg in Krasnojarsk. (Foto: Ilya Naymushin/SNA/Imago)

Bereut hat Nörl seinen Schritt jedenfalls nicht. "Wir stehen anders da als vor vier Jahren und haben höhere Chancen, gute Ergebnisse einzufahren", sagte er unlängst, "da hat sich einiges getan. Ich glaube, wir haben einen guten Weg gefunden." Wenn er nicht aufpasst, findet er am 10. Februar auch im Genting Snowpark wieder den schnellsten Weg ins Ziel, und dann dürfte im Tattoostudio wohl der andere Arm fällig sein.

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