Skispringer Noriaki Kasai:Der alte Mann und das Mehr

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Je älter, desto besser: Der 42-jährige Noriaki Kasai (Foto: AFP)

Als Noriaki Kasai das erste Mal in Bischofshofen auf dem Podest stand, war der Tourneeführende Stefan Kraft noch gar nicht geboren. Mit 42 Jahren springt der Japaner nun so stark wie nie zuvor. Das Publikum liebt ihn. Denn er verschiebt Grenzen.

Von Lisa Sonnabend

Ein kleiner gelber Fleck ist hoch oben auf dem Schanzentisch zu sehen - und unten wird es laut. Sehr laut. Die Zuschauer rempeln ihre Nachbarn an, sie hüpfen, sie kreischen, sie tröten. Zwischen all den rot-weiß-roten Fahnen wehen plötzlich zahlreiche weiße, auf denen ein roter Kreis abgedruckt ist. Denn ein Phänomen aus Japan macht sich oben bereit - und ein Phänomen feuert das Publikum in Innsbruck und Bischofshofen natürlich genauso frenetisch an wie einen Österreicher.

Noriaki Kasai gleitet in seinem gelben Anzug die Schanze hinunter. Beim Absprung fasst er sich mit den Händen an den Hintern, dann lehnt er den Oberkörper ganz weit nach vorne, so dass seine Nase fast die Skispitzen berührt. Er fliegt ruhig, er fliegt weit. Mal wieder. 135,5 Meter segelt er am Montagabend bei der Qualifikation zum letzten Springen der Vierschanzentournee, nur drei anderen Skispringern gelingen bessere Sätze.

Erst wenn Kasai die Brille und den Helm abnimmt, ist zu erkennen, was ihn zum Phänomen macht. Falten ziehen sich durch sein Gesicht, ein paar seiner schwarzen Haare sind bereits ergraut. Kasai ist 42 Jahre alt - und springt so gut wie nie zuvor in seiner langen Karriere. Der Japaner widersetzt sich allen Gesetzen des Sports. Er verschiebt Grenzen. Dafür liebt ihn das Publikum.

Kasai stand schon 1993 auf dem Siegertreppchen

Zum 24. Mal nimmt Kasai an der Vierschanzentournee teil. Beim Wettkampf in Innsbruck belegte er einen starken dritten Platz. Wenn der Japaner nun in Bischofshofen noch einmal einen guten Wettkampf zeigt, könnte er am Ende auf dem Siegertreppchen stehen. Wie schon 1993, als er Zweiter wurde. Stefan Kraft, der Führende in der Gesamtwertung, war damals noch gar nicht geboren.

Die Karriere von Kasai begann 1988 beim Wettkampf in Sapporo, damals sprang er noch im Parallelstil. 458 Weltcups hat er mittlerweile absolviert, 53 Mal stand er auf dem Podium, 17 Mal gewann er. Zehn Jahre lang hat er zuletzt ziemlich um seine Form kämpfen müssen. Doch er hörte nicht auf. Und in der vergangenen Saison war er plötzlich wieder da. In Sotschi nahm er zum siebten Mal an Olympischen Spielen teil und gewann die Silbermedaille von der Großschanze. Gold verpasste er lediglich um 1,3 Punkte. Das Paradoxe: Mit 42 Jahren springt Kasai nun noch stärker als mit 41 Jahren. Er präsentiert sich so sicher und konstant wie nie zuvor.

Nach dem Wettkampf in Innsbruck wurde der Japaner gefragt, warum es bei ihm immer besser laufe im Alter. Kasais Antwort fiel kurz aus, aber sie klang ehrlich: "Ich weiß es nicht", sagte er nur. Dann lachte er, so dass seine schiefen Zähne zu sehen waren.

Auch wenn die Sprungkraft etwas nachlässt und die Gelenke sich abnutzen, einen Vorteil hat Kasai im Vergleich zu seinen meist recht jungen Kollegen. Keiner kennt die Schanzen so gut wie er. Kasai hüpfte sie alle schon mehrmals hinunter - bei Rückenwind oder im Schneetreiben. Er weiß um die Besonderheiten und Tücken - ob am Bergisel oder an der Olympiaschanze in Garmisch.

Kasai ist im Laufe der Jahre lockerer geworden, er wirkt gelöster. Wenn er nach einem Sprung das Stadion verlässt, winkt er freundlich ins Publikum. Die Springerkollege schätzen ihn, der Respekt ist groß. Simon Ammann nannte ihn vor ein paar Tagen: "einen großen Gentleman". Der Slowene Peter Prevc sagte: "Er ist eine Inspiration für mich." Englisch spricht Kasai zwar auch nach 26 Jahren im Profisport kaum, doch er gibt inzwischen mehr von sich preis. Notfalls mit Hilfe eines Übersetzers. Auf der Pressekonferenz der Sieger in Innsbruck sagte er: "Ich wollte unbedingt gewinnen, weil meine verstorbene Mutter an diesem Tag ihren 66. Geburtstag gehabt hätte. Jetzt werde ich versuchen, es in Bischofshofen nachzuholen."

Ein Vorhaben, das gar nicht unrealistisch ist. Die hohe Schanze liegt dem Flieger Kasai. Zweimal war er hier schon Zweiter - auch wenn dies schon mehr als 20 Jahre zurück liegt. Sollte es am Dienstagabend nicht mit dem Sieg klappen, versucht Kasai es eben im nächsten Jahr wieder. Vielleicht ist er mit 43 Jahren ja noch stärker.

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