Vierschanzentournee:Die Ruhe vor dem Turm

Lesezeit: 3 min

Die Bergiselschanze katapultiert die Springer hoch über die Stadt. Den Blick über Innsbruck wird Karl Geiger beim dritten Springen der Tournee aber kaum genießen können. (Foto: AFP)

Ein Quartett tritt am Sonntag im Kampf um den Tourneesieg an. Der Pole Dawid Kubacki scheint gerade das Momentum auf seiner Seite zu haben - doch die Innsbrucker Bergiselschanze ist speziell.

Von Volker Kreisl, Innsbruck

Schnee ist weiß. Gefrorene Wasserkristalle, zumal von Schanzenarbeitern platt getrampelt, liegen blendend hell da, und wer von oben angeflogen kommt, der kann bei der Landung leicht irritiert sein. "Ein bisschen haben die Tannenzweige gefehlt", sagte Karl Geiger, "die dem Schnee hier immer Konturen geben." Ansonsten aber sei die Bergiselschanze von Innsbruck bestens in Schuss.

Die Zweige lassen sich vielleicht noch dazu stecken, dann ist die Innsbrucker Landebahn, die zuletzt bei der Vierschanzentournee so oft Probleme bereitet hatte, perfekt. Immerhin, bei der Qualifikation zur dritten Station der 69. Ausgabe des Winterklassikers, ist niemand gestürzt. Die Spannung, die mit dem Tross aus Garmisch-Partenkirchen herüber nach Österreich getragen wurde, bleibt vor dem Springen am Sonntag (13.30 Uhr) voll erhalten.

Niemand von den besten Vier, die noch auf den Gesamtsieg hoffen können, hat sich am Samstag eine Blöße gegeben. Allen voran Halvor Egner Granerud: Der 24-jährige Norweger sprang abermals an seiner wie vom Computer gezirkelten Flugkurve entlang und landete bei Bestweite: 129 Meter. Doch auch seine Konkurrenten vermittelten nicht den Eindruck, als hätten sie vor der wohl schwierigsten Schanze der Tournee zu großen Respekt. Der Oberstdorfer Geiger, Sieger beim Tournee-Auftakt, landete bei 125 Metern, weil er die Landung mangels Sicht lieber etwas zu früh in den Schnee setzte. So aber wurde er Siebter, vor ihn hatten sich noch die beiden Polen Dawid Kubacki (3.) und Kamil Stoch (5.) gesetzt.

Geigers Konkurrenz um den Tournee-Titel ist im Aufwind

Geigers Rückstand zum Tourneeführenden Granerud beträgt 4,0 Punkte, also von Wind- und Haltungspunkten abgesehen umgerechnet 2,2 Meter. Viel mehr müssen Stoch (3,7 Meter) und Kubacki (4,7) auch nicht aufholen, um die Spitze zu übernehmen. Die Vier sind also fast auf Augenhöhe, andererseits befindet sich jeder in einem anderen Motivationszustand. Granerud, der bis vor dieser Saison noch fast unbekannt war, der plötzlich diesen grandiosen Lauf erwischt hat, kann einfach darauf vertrauen, dass ihn seine Anfahrtshocke und sein starker Absprung auch weiterhin nach ganz weit unten befördert. Er wirkt unbeschwert, was sollte ihn schon stören?

Kubacki und Stoch wiederum werden gerade vom speziellen Aufwind getragen, den das ganze polnische Team entfacht hat mit seinen starken Leistungen wie den vier Top-Ten-Plätzen von Garmisch. Beteiligt waren aber auch die Umstände, genauer: das Hickhack von Oberstdorf. Seit der plötzlichen Rückkehr aus der wegen eines positiven Coronatests verhängten Wettkampf-Verbannung, springen sie, als wäre die Schanze ein Katapult. Stoch verbessert seinen Sprung immer mehr, und Kubacki gelang eine Befreiung, er sprang mit 144 Metern an Neujahr Schanzenrekord. Die Tournee hatte er hat ja im Frühjahr 2020 gewonnen, und die Bezeichnung Titelverteidiger ist allmählich wieder wörtlich zu nehmen: Kubacki ist in Siegform. Nebenbei freuen sich beide Polen wie Kinder beim Springen im Freibad. "Wir sind wieder da!" rief Kubacki in der Mixed-Zone. "Das Selbstvertrauen wächst mit jedem Sprung!", juchzte Stoch.

Geiger und Eisenbichler mussten zuletzt Rückschläge hinnehmen

Wegen des gut gelaunten Teams im Rücken glauben nun viele Experten, dass vor allem Kubacki, der in der Qualifikation am Bergisel auf 128 Meter sprang, nun Granerud am ehesten abfangen könnte. Einen derartigen Schwung hatte das deutsche Team bei der Skiflug-Weltmeisterschaft vor drei Wochen, die ja Geiger gewann. Seitdem hat er aber ähnlich wie der aktuelle Gesamtweltcup-Zweite Markus Eisenbichler kleinere Rückschläge erlebt; Letzterer müsste mindestens 13 Meter gut machen, um die Tournee zu gewinnen. Die Frage ist also, was Geiger den drei unbeschwerten Seglern entgegenzusetzen hat.

Selten lässt Karl Geiger einen Blick auf seine Gefühlswelt zu, nach seinem Sprung auf Rang sieben in der Qualifikation lässt sich seine Mine aber leicht entschlüsseln. (Foto: Daniel Karman/dpa)

Geiger juchzt selten, ein richtiger Schrei entfährt ihm auch nur, wenn er soeben eine Skiflug-WM gewonnen hat, was darauf hindeutet: Geigers Stärke ist die Ruhe. Von den vier Tourneefavoriten ist er derjenige, der die wenigsten Gefühle preisgibt. Er spricht ruhig und sachlich, meidet Übertreibungen und wehrt sich eher gegen Superlative, die ihn im Dezember mit Siegen im Sport und Höhepunkten im sonstigen Leben (Vater geworden) begleitet hatten.

Geigers Sport ist einer der wenigen Disziplinen, in denen die Ruhe mächtig Schwung bringen kann. Vor zwei Jahren ist er am Bergisel WM-Zweiter hinter Eisenbichler geworden - kann er nun auf dieses Erlebnis zurückgreifen? Geiger wägte ab und antwortete, wie erwartet, ruhig und sachlich. "Es hilft zu wissen", sagte er, "dass man auch viele positive Erlebnisse hier hatte, aber im Endeffekt ist es so: Wenn man gerade gut springt, glaubt man, auf jeder Schanze stark zu sein."

Die von Innsbruck hat er jedenfalls längst studiert. Sie ist eng, und der Anlauf, sagt Geiger, "hat einen ganz anderen Charakter als die bisherigen Schanzen". Man müsse gut aufpassen, weil alles schneller geht, zudem gebe es im Radius vor dem Schanzentisch einen leichten Schlag, der irritieren kann. Es fühle sich dort fast an, als fahre man auf einen Kicker zu, also eine Schanze wie beim Free-Ski, die einen steil nach oben hinauswirft. Geiger warnt: "Wenn man da zu passiv ist, hat man keine Chance mehr." Dagegen ist die Landung im weißen Schnee wohl ganz einfach.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Skispringer Karl Geiger
:Der Punkteschaden fällt überschaubar aus

Beim Sieg des Polen Dawid Kubacki muss Karl Geiger die Tournee-Führung abgeben - trotzdem hat er noch alle Chancen. Die Bergisel-Schanze in Innsbruck könnte zum Ort der Vorentscheidung werden.

Von Volker Kreisl

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: