Favoriten der Vierschanzentournee:Wer fängt den Überflieger ein?

Lesezeit: 5 min

Der derzeit beste Skispringer: der Norweger Halvor Egner Granerud. (Foto: Jure Makovec/AFP)

Bei der Tournee werden wohl die erfahrenen Springer den jungen Norweger Halvor Granerud jagen. Das sind die vier Kandidaten für den Gesamtsieg.

Von Volker Kreisl, Oberstdorf

Gäbe es hier einen Startschuss, dann könnte man ihn weit hören. Er würde hinaufschallen zu den weißen Gipfeln und vielleicht als Echo zurück nach Oberstdorf in die von Zuschauern verlassene, nahezu leere Arena. Aber dies ist Skispringen, und da wird zum Auftakt nicht geschossen, sondern sachte in die Anlaufspur gehopst an diesem Montag zur Qualifikation für den ersten Wettkampf der 69. Vierschanzentournee. Wegen Corona wird in den kommenden elf Tagen alles anders aussehen, wird sich seltsam anhören und neu anfühlen, eines aber ist wie immer. Beim Springen selber geht es um Anfahrtshocke, Absprung, Flug und Landung. Vier Favoriten bieten sich nach den ersten Weltcup-Wettbewerben im Dezember an.

Halvor Egner Granerud (Norwegen)

Noch ist alles ganz einfach. Die komplizierteste Aufgabe wird zum Selbstläufer. Der eigene Geist hat einen Riesenspaß, und die Zuschauer und alten Experten, der Sportverband und die Kommentatoren, sie alle hegen noch keine Erwartungen an das neue Talent, das gerade alles richtig macht, weil es erst 24 Jahre alt ist und deshalb noch nichts wirklich falsch machen kann.

Halvor Egner Granerud vom Asker Skiklubb, 25 Kilometer westlich von Oslo, kannte auch in Norwegen bis zu Saisonbeginn kaum jemand, außer Insidern und leidenschaftlichen Winter-Fans. Wie auch? Skispringen rangiert in Norwegen hinter Langlauf, Alpin und Biathlon, Granerud hatte es noch nie unter die besten drei eines Weltcups geschafft, und in diesem Sommer fand nicht einmal ein Matten-Grand-Prix statt, nur Training in der Blase. Dann begann die Saison, und Granerud eroberte die Podeste seines Sports. Zweimal stand er in Wisla noch als Vierter knapp daneben, dann fünf Mal nacheinander ganz oben. Eine Siegesserie, die vor ihm noch kein Norweger geschafft hatte, was er selber nicht fassen konnte: "Ich bin sehr glücklich! Es ist unglaublich!", sagte er nach Nummer fünf vor Weihnachten, bei der letzten Tournee-Probe in Engelberg. Sein Geheimnis, sagt er, sei vielleicht, "dass ich versuche, alles ganz einfach anzugehen", und schob unschuldig hinterher: "Was weiß ich."

Halvor Egner Granerud. (Foto: Manuel Geisser/Imagio)

Mit 137 Punkten Vorsprung führt er nach nur sieben Weltcups die Rangliste an, den Namen Granerud kennt in Norwegen nun wohl jeder, der sich für Wintersport interessiert, und das sind sehr, sehr viele Leute. Die Vierschanzentournee beginnt, und Granerud kann auf einmal ganz viel falsch machen.

Vor allem nachdenken. Das Team ist zwar über die Feiertage nach Hause geflogen, um auch auf andere Gedanken zu kommen, aber die Frage ist, ob über Weihnachten die Menschen, mit denen Granerud zu Hause oder im Internet sprach, das Thema Skispringen umschifften und lieber über den Geschmack der Kekse und den Glühwein diskutierten. Und falls ja, ob der junge Springer seine sagenhafte Performance auch vor sich selbst weiter abtun konnte, wie zuletzt noch öffentlich: "So extrem gute Sprünge mache ich ja gar nicht."

Viele senkrecht startende Skispringer haben vor der Tournee angefangen nachzudenken, ein Beispiel war vor vier Jahren der junge Slowene Domen Prevc, der als Weltranglistenerster dann schon in Oberstdorf alle Chancen auf den Gesamtsieg verpasste. Ein Sportler in dieser Form kann auf einmal große Verantwortung spüren, dazu den Drang, nun jeden Fehler zu vermeiden, und dabei seine Lockerheit verlieren. Skispringen ist sensibel, man kann viel falsch machen von der Anfahrt bis zur Landung, und die Schanze in Oberstdorf hat auch ihre eigenen Tücken. Und überhaupt: Sollte man nicht doch einen Plan festlegen vor dieser Chance des Lebens? All das konnte Halvor Egner Granerud nun im Kopf umgehen, die Gegner spekulierten jedenfalls darauf.

Aber vielleicht hat er es doch geschafft. Vielleicht ist er wirklich abgetaucht zu Hause und hat sich gedacht, dass man sowieso nichts unter Kontrolle hat, denn alles wird doch ganz einfach, ach, was weiß ich.

Markus Eisenbichler (Siegsdorf)

Selten war eine Skisprung-Weltrangliste weniger aussagekräftig als in diesem Dezember. Der Siegsdorfer Markus Eisenbichler, 29, ist jener Zweite, der zurzeit diese 137 Punkte Rückstand auf Granerud an der Weltcupspitze hat. Aber diese Zahl kann täuschen. Der Blick auf eine Liste ist informativ und doch unvollständig. Eisenbichler, so sagen uns die Zahlen, hatte zu Saisonbeginn bereits einen Höhepunkt, dann brach er ein, und schließlich hat er sich zwar erholt, kommt nun aber dem Spitzenmann Granerud nicht mehr hinterher. Was nicht in der Liste steht, ist die Tatsache, dass Eisenbichler in einem Alter ist, in dem man nicht nur von einem Form-Flow profitiert, sondern von Erfahrung.

Markus Eisenbichler. (Foto: Manuel Geisser/Imago)

Der Knick nach seinen guten Anfangssprüngen war schnell zu erklären: Ein Windstoß von hinten drückte ihn auf dem Sprung zum Sieg in Nischni Tagil viel zu weit oben auf den Hang. Statt hundert bekam er drei Punkte, was zunächst egal war, Hauptsache, er war nicht gestürzt. Am nächsten Tag sprang er knapp am Podest vorbei, hielt dann seine Form, verfehlte als Aufwindspezialist auf der Rückenwind-Schanze von Engelberg das Podest wegen eines Fehlers um einen halben Meter und schaffte es dennoch am nächsten Tag auf Rang zwei.

Eisenbichler ist das Gegenteil von einem Jungspringer, der alles ganz einfach nimmt, er ist eher emotional, hat zwar seinen Jähzorn im Griff, was aber nicht heißt, dass er gar nicht mehr wütend wird. In Engelberg ist er zuletzt zurückgekommen, was seine Vorfreude auf die Tournee bestärkt, vor allem auf deren vier Schanzen, die ihm liegen. Drei von ihnen gestatten ihm das, was er kann, nämlich fliegen. Und die vierte beherrscht Eisenbichler grundsätzlich auch, sonst wäre er am Bergisel in Innsbruck 2019 nicht Weltmeister geworden.

Karl Geiger (Oberstdorf)

Der Mann aus Oberstdorf zählt bei den meisten Tournee-Deutern zu den Favoriten auf den Gesamtsieg, obwohl er nur als Elfter im Gesamtweltcup geführt wird. Doch Geiger hatte vor der Tournee einen etwas anderen Wettkampfverlauf, als es das Schulbuch des Skispringens vorschlägt. Ideal ist eine stringente, schrittweise Formoptimierung in der ersten Saisonphase. Geiger aber begann mit einem zweiten Platz, ließ diesem zwei Top-Ten-Ränge folgen, reiste dann nach Hause, um bei der Geburt seines Kindes dabei zu sein, aber das Kind hielt sich natürlich nicht an den Termin und blieb noch im Bauch. Geiger reiste also weiter zur nächsten Schanze nach Slowenien, wurde dort Skiflug-Weltmeister und Teamzweiter und schaute danach, dass er schnell wieder nach Hause kam, um die Geburt doch noch mitzuerleben.

Karl Geiger. (Foto: Matic Klansek/Gepa/Imago)

Er hielt dann auch tatsächlich seine Tochter in Händen, musste sie aber kurz darauf abgeben, weil er wegen eines positiven Corona-Tests in Quarantäne zu verschwinden hatte. Bis zuletzt blieb er symptomfrei, wurde in der Woche negativ auf Corona getestet, aus der Quarantäne entlassen und hat nun wie alle noch den letzten PCR-Test absolviert, mit Ergebnis am Montag.

Weil er sich fit fühlt, steht seinem Einsatz in der Qualifikation am Montag wohl nichts entgegen. Fraglich ist, ob er an seine Siegform einfach anknüpfen kann. "Die Favoritenrolle ist er los", sagt Bundestrainer Stefan Horngacher. Mit Hanteln hat er zwar trainiert, die vermitteln aber kein Fluggefühl. Andererseits - wenn es eine Schanze gibt, auf der der Oberstdorfer Geiger das Einspringen auslassen könnte, dann die in Oberstdorf. Vielleicht kommt er sogar sehr weit, weil er nach dieser bewegten Zeit nichts zu verlieren hat, und sich sagt, gehe ich halt wie ein unbekümmerter Neuling alles ganz einfach an, und überhaupt, was weiß ich.

Kamil Stoch (Polen)

Zwischen den Besten und dem erwähnten Elften Geiger liegen noch einige Springer, die diese Tournee gewinnen könnten, die aber noch unbeständig auftraten. Dazu zählt Kamil Stoch, 33, der noch mehr Erfahrung hat als Eisenbichler, die Schanzen noch länger kennt und ein noch größeres Repertoire an Tricks beherrscht, um Probleme zu meistern. 2013 wurde er Weltmeister, 2014 Doppel-Olympiasieger, 2017 gewann der die Tournee, 2018 ebenso (per Grand Slam, also mit Siegen auf allen vier Schanzen). In diesem Winter wirkte er zunächst wie chancenlos, weil sein ganzes Team die Springen in Russland ausgelassen hatte und seine Frühform zu wünschen übrig ließ, weshalb er nur auf Platz zehn im Ranking steht. Ähnlich erging es den anderen Polen unter den Top Ten. Dem siebtplatzierten Dawid Kubacki - dem Titelverteidiger - und Piotr Zyla auf Rang vier fehlen die Punkte aus Russland.

Kamil Stoch. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Dennoch ist Stoch die pünktliche Metamorphose zum Weitflieger am ehesten zuzutrauen. Sein systematischer Saisonaufbau war zuletzt ein Gegenentwurf zu Karl Geigers stressigem Dezember. Stoch bastelte beharrlich und fleißig an der Form und wurde zuletzt wieder Zweiter. Genügen wird ihm das noch lange nicht.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Skispringer Geiger und Eisenbichler
:Deutschlands fliegendes Doppelzimmer

Auch wenn sie gerade wegen Corona getrennt sind: Karl Geiger und Markus Eisenbichler bestimmen das Skispringen in diesem Winter - bei der Tournee gelten sie als Favoriten.

Von Volker Kreisl

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: