Ski alpin:Unverzüglich und bittersüß

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Abfahrer Erik Guay, 37, hat sich vom Sport verabschiedet. Gesundheit und Leben nach der Karriere sind wichtiger.

Von Johannes Knuth

Jetzt, da Erik Guay zum letzten Mal eine Abfahrt hinuntergesaust ist, sollte man noch einmal an seine wohl beste Fahrt erinnern. Wobei: Es war nicht nur die Fahrt, die damals im Gedächtnis haften blieb, es waren der ganze Tag und die folgende Nacht: Garmisch-Partenkirchen, 12. Februar 2011, die WM-Abfahrt der Männer stand an, die Königsübung der alpinen Skirennfahrer. Guay ging mit Startnummer zehn an die Arbeit, die frühen Nummern waren damals für die Außenseiter reserviert, die Favoriten kamen später. Aber Guay zeigte auch so eine brillante Fahrt, und weil die Piste mit jedem Läufer weicher und langsamer wurde, kam keiner der Besten mehr an seine Zeit heran: weder Didier Cuche, noch Christof Innerhofer, Romed Baumann oder Aksel Lund Svindal. Guay war damals kein vorhersehbarer Sieger, ein verdienter war er aber schon, und so feierte er dann auch in einer Garmischer Diskothek. Wenn man Guay ein paar Jahre später fragte, ob er sich an den Abend erinnere, dann grinste er, lang und breit. Dann sagt er: "Oh yeah."

Am Sonntag ist Erik Guay aus Montreal also zum letzten Mal eine Abfahrt hinuntergefahren, beim Weltcup in Lake Louise, Kanada. Es war eine gemütliche, zeremonielle Abschiedspartie, bevor das Rennen offiziell eröffnet wurde. Guay trug hellblaue Jeans, ein rot-schwarz-kariertes Holzfällerhemd, einen Gürtel mit einem goldenen Totenkopf, der einen Cowboyhut trug, und führte eine kanadische Fahne mit sich. Er hatte bereits am Donnerstag seinen Ausstand verkündet, was die Szene zunächst mit Erstaunen aufgenommen hatte: Lake Louise ist der erste Termin im Kalender der Abfahrer, hier beginnt der Winter, hier enden für gewöhnlich keine Karrieren. Doch am Mittwoch, im ersten Training, war Manuel Osborne-Paradis verunfallt, Guays Teamkollege. Der 37-Jährige war kurz nach dem Vorfall an der Reihe, er sah, wie der Rettungshubschrauber anrückte und ahnte schon, dass Osbornes Saison schon wieder beendet war.

Er sah den Teamkollegen stürzen und fällte die Entscheidung zurückzutreten - sofort

Abfahrer sind es gewohnt, das Risiko zu verdrängen, das ihr Sport mit sich bringt, aber Guay, Vater von vier Töchtern, hat mittlerweile so viel mitgemacht, dass er in Lake Louise an Ort und Stelle beschloss: "Wenn mir das passiert wäre, weiß ich nicht, ob ich noch mal die Energie für die Reha gehabt hätte." Sein Entschluss des Karriereendes gelte sofort, unverzüglich und sei "bittersüß".

Der Kanadier Erik Guay zählte zu jenen Fahrern, die im Weltcup weniger auffielen, umso mehr aber bei Weltmeisterschaften – und am Wochenende bei seiner Abschiedsfahrt in Lake Louise. (Foto: Jeff McIntosh/AP)

Guay debütierte im Dezember 2000 im Weltcup, zu einer Zeit, in der Hermann Maier, Stephan Eberharter und Lasse Kjus sich mit animalischer Kraft in die Abfahrten warfen. Er etablierte sich in Deutschland in der Weltspitze, die oft unterschätzte, tückische Kandahar-Abfahrt in Garmisch war immer sein Ding. Warum, das weiß er bis heute nicht so recht, das hat er zumindest stets beteuert. Guay gewann in Garmisch jedenfalls zwei seiner nur fünf Weltcups, nach seinem ersten Triumph 2007 ließ er den Siegerscheck über rund 3000 Euro angeblich auf dem Tresen einer Bar liegen - vielleicht aus Vergesslichkeit, oder weil Guay so für die rauschende Feier bezahlen wollte, in Garmisch war das lange ein Gesprächsthema. Es folgten Verletzungen und diverse Großereignisse, bei denen er knapp die Hauptpreise verfehlte. Und dann: WM-Gold 2011, in der Königsdisziplin seines Sports. Kanada, das Land der Eishockeyspieler, horchte auf; als Guay damals am Flughafen landete, fuhren sie ihn sofort zu einem Heimspiel der Montréal Canadiens aus der National Hockey League. 21 000 Zuschauer applaudierten.

Fünf Operationen allein am Knie - mal am Kreuzband, mal am Meniskus, mal links, mal rechts

Guay war einer, der stets den Wesenskern der schnellen Disziplinen verkörperte: die Lust an der Geschwindigkeit und am Erfolg, mit allen Risiken und schmerzhaften Nebenwirkungen. Er wurde 2003 zum ersten Mal am Knie operiert, ein Kreuzbandriss, und als er damals aufwachte, sagte ihm der Arzt: Halb so wild, das Bein werde sogar stärker sein als vor der Operation. "Und warum haben sie dann das andere nicht gleich auch operiert?", scherzte Guay. Das andere Knie kam freilich schneller dran als gedacht. Fünf Mal wurde Guay allein am Knie operiert, mal links, mal rechts, mal war der Meniskus kaputt, mal ein Teil des Knochens, der von den jahrelangen Ruckepartien über die Eisautobahnen im Weltcup zerschlissen war.

Im Januar 2017, eineinhalb Wochen vor der WM, rauschte er in Garmisch - wo sonst? - quer durch die Luft, fast wie Hermann Maier bei seinem wüsten Abflug 1998 in Nagano. Auch Guays Sturz sah fürchterlich aus, aber der Airbag unter seinem Anzug verhinderte Schlimmeres. Und dann: gewann er Tage später in St. Moritz tatsächlich Silber in der Abfahrt und Gold im Super-G, als ältester alpiner Weltmeister. Das war noch mal ein Zeugnis von seiner wohl größten Kernkompetenz: dass er von dieser nordamerikanischen Sportlerspezies abstammt, der das Alltagsgeschäft im Weltcup nicht so furchtbar wichtig ist - die sich bei Großanlässen aber verlässlich in diesen Adrenalinrausch versetzen kann.

Zweimal Gold, einmal Silber: Erik Guay war bei Weltmeisterschaften erfolgreich, bei Olympia ging er leer aus. (Foto: Jeff McIntosh/AP)

Es gibt drei Dinge, die man in diesem Sport gewinnen sollte", hat Guay einmal gesagt, "eine Kristallkugel, eine WM und eine Olympiamedaille" - das war ihm wichtig. Die Kristallkugel erstand er 2009/10, als Weltcup-Gesamtsieger im Super-G, die WM-Titel 2011 und 2017. Die Insignien liegen in einer Vitrine in seinem Haus, sie sind das erste, das man sieht, sobald man das Haus betritt. Nur eines fehlt darin: eine Olympiamedaille. Die Spiele in Pyeongchang im vergangenen Februar waren Guays letzte Chance, damals war es der Rücken, der streikte. Er wird es verschmerzen können.

So eine Leerstelle im Lebenslauf kann ja auch einen Wert in sich tragen: den Wert, halbwegs gesund und aus eigener Kraft aus dem Sport ausgestiegen zu sein.

© SZ vom 27.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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