Ski alpin:Ungebremst über den Kamelbuckel

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(Foto: Alberto Pizzoli/AFP)

Der dramatische Abflug des Schweizer Abfahrers Marc Gisin aus der anspruchsvollen Strecke von Gröden wird die Sicherheitsdebatten im Ski-Zirkus wieder anheizen.

Von Johannes Knuth, Gröden

Und dann war wieder dieser Moment gekommen: als habe jemand den Stecker aus der Stereoanlage gezogen und alles zum Verstummen gebracht, was ein alpines Skirennen so ausmacht. Die aufgekratzten Stadionsprecher, oder die Schweizer Anhänger mit ihren Kuhglocken, die gerade noch den Zielraum von Gröden mit Lärm erfüllt hatten, als ihr Landsmann Marc Gisin sich auf die Saslong-Abfahrt in Gröden aufgemacht hatte.

Es dauerte nicht mal eine Minute, bis aus dieser Fröhlichkeit mit einem Mal alle Luft entwich. Gisin war kurz vor dem mächtigsten Sprung ausgerutscht, "an der blödesten Stelle", wie der Deutsche Andreas Sander später befand - als würde ein Skispringer kurz vor dem Abflug aus der Schanzenspur rutschen und auf den Hang schießen. Und der zweite der sogenannten Kamelbuckel-Sprünge in Gröden ist so eine Art Schanze. Die katapultiert die Fahrer schon mal 80 Meter weit; Gisin segelte also lange durch die Luft, prallte auf dem Eis auf, mit Kopf und Nacken zuerst. Der Schweizer war minutenlang bewusstlos, wurde intubiert und noch am Abend in die Schweiz gefolgen. Sein Verband teilte am Sonntag mit, Gisin habe mehrere Rippenbrüche, eine eingedrückte Hüftpfanne und Verletzungen an der Lunge erlitten - ansonsten keine schwereren Verletzungen. Er liege fürs Erste auf der Intensivstation.

Das Tagesgeschäft war da längst unwichtig geworden, die Zauberfahrt des Norwegers Aleksander Aamodt Kilde etwa, mit der er am Samstag gewonnen hatte. Es war, als wolle der Sport die Szene mal wieder an die alte Spielregel erinnern: Jede Abfahrt ist eine kleine Abenteuerexpedition, und manchmal prallen die Athleten dabei auf Kräfte, die selbst für ihre kühlschrankbreiten Körper zu mächtig sind. Vor dem aktuellen Winter waren der Franzose David Poisson, der junge Deutsche Max Burkhart und in der Vorbereitung auch noch der Schweizer Gian-Luca Baradun tödlich verunglückt; letzterer allerdings beim Gleitschirmfliegen. Das Niveau im Weltcup erreicht zudem allmählich schwindelerregende Höhen, die Abstände im Klassement werden noch kleiner, die Grenze zwischen Sieg und Sturz ebenfalls. "Man muss inzwischen ständig Vollgas geben, um ein gutes Ergebnis zu kriegen", sagte Josef Ferstl, als Zwölfter am Samstag bester Deutscher, das könne schon mehr Fahrfehler provozieren. "Und das", sagte der 29-Jährige, "kann sich sehr böse auswirken."

Die Debatte um die Sicherheit in diesem zehrenden Gewerbe dürfte damit wieder neue Nahrung erhalten, zumal Hannes Reichelt, der österreichische Abfahrer und Athletenvertreter, schon vor dem Wochenende in Gröden seinen Unmut vorgetragen hatte. Die besten 20 Läufer des Weltcups hätten sich im Vorjahr mit dem Weltverbands Fis zusammengesetzt, sagte Reichelt, und vorgeschlagen, man möge einen schnittfesten, dickeren, mit Protektoren versehenen Rennanzug entwickeln. Am besten gemeinsam. Und dann? "Du rennst gegen eine Wand, weil unter den Verbänden keine Einigung zu erzielen ist", sagte Reichelt: "Keiner möchte seinen vermeintlichen Entwicklungsvorteil aufgeben"; sein eigener Verband übrigens auch nicht.

Auch der Airbag, der im Krisenfall kleine Polster unter dem Anzug aufbläst, findet seit Jahren bedingt Anklang im Fahrerlager. "Alles, was den Sport sicherer macht, ist eine gute Sache", sagte der Schweizer Beat Feuz, Dritter in Gröden, "aber bei dem Airbag bin ich noch nicht zu 100 Prozent überzeugt, weil es noch zu wenige Daten gibt." Die deutschen Abfahrer tragen ihn fast alle; andere fühlen sich in ihren Bewegungen eingeschränkt, sie verzichten - auch weil die Fis die Nutzung nur empfiehlt, nicht vorschreibt. Und wenn ein Abfahrer die Wahl hat zwischen mehr Sicherheit und mehr Tempo, wählt er im Zweifel das Tempo. Zumal, wenn die Weltspitze immer mehr zusammenrückt.

Gisin, der am Samstag keinen Airbag trug, war schon mehrmals schwer verunfallt, zuletzt vor drei Jahren in Kitzbühel. Am Freitag hatte er für die Neue Zürcher Zeitung noch eine Kolumne verfasst, über das Stürzen auf der Abfahrt: "Als Leistungssportler muss man immer und immer wieder an seine Grenzen gehen, um Fortschritte zu machen", schrieb er, "Grenzen, die in unserem Fall auch durch Stürze aufgezeigt werden."

© SZ vom 17.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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