Ski alpin:Reichelts Gespür für Kurven

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Fliegen ohne Abfliegen: Nach den vielen Stürzen am Freitag verläuft das Rennen in Garmisch am Samstag normal - Hannes Reichelt gewinnt. (Foto: Alain Grosclaude/Getty Images)

Der Österreicher gewinnt die Kandahar-Abfahrt, weil er seine ungewöhnlichen Fähigkeiten zur Geltung bringt - und so den Gefahren der Strecke trotzt, an denen viele seiner Konkurrenten verzweifeln.

Von Johannes Knuth, Garmisch-Partenkirchen

Das merkwürdige Gefühl war bereits am Start da, im Mittelteil wurde es stärker, und dann, bei der Anfahrt auf den Kramersprung, wurde dem Skirennfahrer Hannes Reichelt, 36, aus Österreich wirklich ein wenig "mulmig". Reichelt sprach da allerdings bloß über die Pistenbesichtigung am Samstagmorgen, als die Fahrer über die finstere Abfahrtspiste in Garmisch rutschten.

Am Vortag waren sie an diesem Kramersprung alle ins Schwitzen gekommen oder gar gestürzt, Steve Nyman etwa; Erik Guay und Valentin Giraud Moine hatte es früher beziehungsweise später erwischt. Für Nyman und Giraud ist die Saison nach schweren Knieschäden beendet. Der Kanadier Guay ließ die Abfahrt am Samstag nach seinem gruseligen Sturz aus, wegen starker Prellungen.

Reichelt verließ die Unfallstelle nach der Inspektion dann aber doch mit einem besseren Gefühl, denn "von der Sicherheit war es wesentlich besser als am Vortag", fand er. Er hatte für das Rennen die Startnummer eins gewählt, mit der Eins ist man eigentlich der Testpilot, aber weil sie am Freitag schon eine Abfahrt abgehalten hatten, konnte Reichelt eine siegtaugliche Fahrlinie auf die unbefleckte Piste legen. Außerdem habe er keine Lust gehabt, im Starthaus zu bezeugen, wie sich die anderen durch die Gefahren quälen. "Dann", sagte Reichelt, "fahre ich lieber als Erster runter."

Garmischs Organisatoren haben die Piste entschärft

Die zweite Abfahrt auf der Kandahar meinte es am Samstag deutlich besser mit den Fahrern nach dem turbulenten Auftakt am Freitag. Die Zutaten vom Vortag, die eine gefährliche Mischung ergeben hatten, waren zwar auch am Samstag die gleichen: Die Piste war schneller und eisiger als im Training, manche Fahrer mussten viel riskieren, um sich in der letzten Abfahrt vor der WM für eine Teilnahme zu empfehlen. Der Fahrbelag changierte zwischen Schnee und Eis, das alles auf der dunklen Kandahar, auf der man viele Fallen am Boden schwer erspähen kann.

Allerdings hatten die Organisatoren die gefährlichste Prüfung vom Freitag, den Kramersprung, entschärft. "Man muss die Organisatoren auch mal loben", sagte Reichelt später, stellvertretend für die Kollegen. Zudem hatten sich die Fahrer auf den schweren Prüfungsstoff offenbar auch gewissenhafter vorbereitet. "Ich hab' mir geschworen, keinen groben Blödsinn zu machen", sagte Reichelt. Weniger Risiko bringt einen Fahrer auf Eisautobahnen bei Tempo 140 oft schneller ans Ziel als eine Überdosis Wagemut.

Am Samstag war Reichelts Linie jedenfalls die beste. Er führt keine Muskelberge mit sich wie manche Kollegen, er ist dafür mit einem ausgezeichneten Gespür für Kurven ausgestattet, als ehemaliger Riesenslalom-Experte, dazu mit geschulten Augen für die beste Fahrspur. Er kam gut in den Kurs, fuhr knackig durch die langgezogene Rechtskurve vor dem Trödelhang, wo er am Freitag beinahe ins Netz gerauscht war. Der Mittelteil gelang ihm prächtig, die Schrägfahrt im Eishang, Kramersprung, Seilbahnsprung, Reichelt verlor wenig Zeit in den Kurven, das schenkte ihm viel Geschwindigkeit für die Zielpassage.

Reichelt ist nun zweitältester Abfahrtssieger

Viele, die nach Reichelt starteten, waren bis zum Mittelteil schneller, danach rüttelten sie alle vergeblich an seiner Zeit: Dominik Paris, der Kitzbühel-Sieger, Kjetil Jansrud, der Favorit, Travis Ganong, der Sieger vom Vortag, Beat Feuz, der Dritte. Am nächsten kam ihm noch Peter Fill, um 16 Hundertstelsekunden. Am Ende war Reichelt der erste Abfahrer seit Christof Innerhofer 2008, der mit Startnummer eins die schnellste Zeit gefahren war. Und älter als Reichelt, 36, war bei einem Abfahrtssieg bislang nur der Schweizer Didier Cuche gewesen, mit 37.

Erfahrung ist ein wertvoller Rohstoff im Abfahrtssport, viele Fahrer auf den Podien stammen aus der Ü30-Klasse. Aber Reichelt ist unter den Veteranen noch einmal ein ungewöhnlicher Fall. Er entdeckte seine Zuneigung zum Abfahrtssport erst mit 30, er hat mittlerweile zwölf Weltcupsiege hinter sich, aber auch schon Lähmungen und zwei Rückenoperationen, 2014 nach seinem Sieg auf der Streif und im vergangenen September. Als die Kollegen im Herbst auf den Gletschern trainierten, die Schienen für die neue Saison legten, durfte er nur spazieren gehen. Er tastete sich langsam in den Winter, wurde 24. in der Abfahrt von Val d'Isère, 17. in Gröden, in Kitzbühel schon wieder Neunter, Vierter am Freitag in Garmisch, Erster am Sonntag. Er muss sich noch immer jeden Abend eine Dreiviertelstunde Schmerzen und Anspannung aus dem Körper treiben lassen, "die Therapeuten sind mit mir schon ganz schön eingespannt", sagte er in Garmisch. Andererseits bringen die Rückenschmerzen auch Erleichterung, sagt Reichelt, zumindest im Haushalt: "Geschirrspüler einräumen tue ich noch immer nicht."

© SZ vom 29.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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