Ski alpin:Die Entdeckung der frechen Linie

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Die Lücke zu den Besten wird kleiner: Die Deutsche Christina Geiger fuhr in Flachau auf Rang sechs vor. (Foto: Harald Steiner/imago)

Beim Nachtslalom von Flachau überrascht die Slowakin Petra Vlhova - und eine Deutsche gefällt.

Von Johannes Knuth, Flachau

Vielleicht hätte man es schon ahnen können, kurz bevor der Slalom am Dienstagabend seinen Lauf nahm. Da fertigten die slowakischen Fans die ersten Gruppenbilder vor dem Zielraum an, in Sichtweite der Après-Ski-Tempel. Später sicherten sie sich die besten Plätze auf der Stehtribüne, begleiteten auf ihren Tröten die Melodie eines jeden Liedes, das die Regie einspielte, von Elvis Presley bis zum Radetzky-Marsch. Als Petra Vlhova an der Reihe war, nahmen sie ihre Landsfrau im Ziel mit minutenlangen Sprechchören in Empfang, dann tröteten sie weiter, selten im Takt, dafür mit umso tieferer Hingabe.

Vielleicht hätte man da schon ahnen können, dass der Nachtslalom in Flachau mal wieder ein spezieller werden sollte.

Alles ist ja ein bisschen größer, bunter, intensiver bei den alpinen Skirennfahrern im Januar: die Stimmung, die Erwartungen, vor allem in Österreich, das Publikum in Flachau - 11 000 waren diesmal gekommen, obwohl ihr Land gerade eingeschneit wird (was am Mittwoch zur Absage der Speed-Rennen am kommenden Wochenende in St. Anton führte). Spätestens das Finale im zweiten Lauf war dann jedenfalls eines, das dieser Kulisse die würdige Vorstellung verpasste. Als Petra Vlhova im zweiten Lauf fuhr, nahezu ruckelfrei auf der buckeligen Piste, die 400 Helfer seit Tagen immer wieder freigeschaufelt hatten, da schwoll der Lärm fast so sehr an wie in einem südafrikanischen Fußballstadion. Bestzeit. Später klammerte sich die 23-Jährige an ein Geländer, wie eine Boxerin nach rundenlanger Prügelei im Schwergewicht. Zwei standen jetzt noch oben, die Schwedin Anna Swenn-Larsson, die erst auf Platz zwei vorstieß, dann bitter weinte, weil sie eine Stange regelwidrig umkurvt hatte und disqualifiziert wurde. Schließlich scheiterte auch Mikaela Shiffrin an Vlhovas Referenz, die Amerikanerin, die bislang alle fünf Slaloms des Winters gewonnen hatte. Jubel, Tröten, Vlhovas Tränen, alles verschmolz jetzt zu einer großen Glückseligkeit.

Christina Geiger lehnte da schon an einem Zaun vor der Tribüne im Zielraum, mit dem Rücken zu all der Glückseligkeit. Doch ihre Stimmung war so wohltemperiert wie seit Langem nicht mehr. Die 28-Jährige vom SC Oberstdorf hatte sich an sechster Stelle im Klassement eingefunden, zeitweise hatte sie im zweiten Lauf sogar die Führung verantwortet, mit mehr als einer Sekunde Vorsprung. "Da habe ich die Welt gar nicht mehr verstanden", gestand Geiger später, "ich hatte da doch den einen oder anderen Fehler drin". Aber manche Fehler sind ja weniger Zeichen des Unvermögens, sondern Vorboten des Gelingens, weil sie nur jenen Läuferinnen unterlaufen, die sich der Grenze des Machbaren nähern. Und Geiger, so viel stand fest, hatte in Flachau im zweiten Lauf wieder eine dieser couragierten Fahrten gezeigt, die man ihr oft zugetraut, die sie aber selten zur Aufführung gebracht hatte. Das war eine weitere, überraschende Botschaft am Dienstagabend.

Geiger war einmal Juniorenweltmeisterin, fast neun Jahre ist das jetzt her. Danach war sie meist eine Fahrerin der Konjunktive. Wenn sie gesund ist, wenn sie zu mehr Vertrauen und Sicherheit finden würde, dann wäre sie eine für die vorderen Ränge. Doch Theorie und Praxis harmonierten dann oft nur selten miteinander, Geiger wurde mal Dritte, sammelte ein paar Vermerke unter den besten Zehn - ansonsten schwamm sie im grauen Mittelfeld mit, als spiele sie auf einem Klavier, auf dem sie nur ein paar Tasten nutzt und ganze Klangwelten unerschlossen lässt. Sie machte mal hartnäckige Kniebeschwerden geltend, mal waren es andere Gründe, über die Trainer und Athletin nicht immer einer Meinung waren. Er erkenne bei Geiger halt nicht dieses "Rennpferd-Gen", sagte der frühere Bundestrainer Markus Anwander vor drei Jahren, das Vermögen also, "110 Prozent der Leistung abzurufen, wenn es drauf ankommt." Im Deutschen Skiverband störte sie das auch deshalb, weil nach Maria Höfl-Rieschs Rücktritt eine große Leerstelle im Slalom-Team klaffte.

Und nun: Hat Geiger drei starke Rennen aneinander geknüpft, Platz sieben beim Parallelslalom in Oslo, Rang fünf in Zagreb, Platz sechs in Flachau. Oder wie sie es am Dienstag nannte: die Arbeit "an der frechen Linie". Die freche Linie?

Sie sei mittlerweile nun mal in der Situation, in der sie sich sage: "Ich habe nichts zu verlieren, ich geb mich mit einem 20. Platz nicht mehr zufrieden", begründete Geiger ihr mittlerweile recht stabiles, persönliches Hochdruckgebiet: "Ich weiß, dass ich's besser kann und will's auch besser machen." Ähnliche Wortbeiträge hatte man von ihr in all den Jahren freilich schon oft vernommen, also, woher stammt der frische Schwung? "Die Erkenntnis ist schon lange da", sagte Geiger, ihr Trotz sei zuletzt nur besonders mächtig gewesen, weil die ersten Rennen des Winters so kräftig danebengegangen waren. Und: "Durch die Verletzungen war immer ein Trainingsrückstand da, im Rennen war ich nicht so überzeugt von mir. Wenn man gute Ergebnisse hat, fährt man einfach befreiter."

Noch muss sich zeigen, wie lange dieser kleine Klimawandel anhält. Und noch ist der Rückstand auf die Allerbesten der Zunft groß, 2,68 Sekunden waren es am Dienstag auf die Siegerin. Aber sie sei gewillt, die Lücke bis zur WM im Februar weiter zu verkürzen, sagte Geiger. Und sonst? Lena Dürr muss derzeit schon einen 15. Rang mit fünf Sekunden Rückstand als Signal des zarten Fortschritts werten, Jessica Hilzinger (41.) und Marlene Schmotz (51.) verpassten in Flachau den zweiten Durchgang. Eine andere Teamkollegin schaute derweil im Ziel zu: Marina Wallner, die im November zum zweiten Mal einen Kreuzbandriss erlitten hatte. "Die hätte heuer einen richtig guten Schritt gemacht, ihr Verlust war extrem zäh für das Team", sagte Cheftrainer Jürgen Graller. Am Dienstag warb Wallner zumindest ein bisschen für ihren Sponsor: ein Flachauer Etablissement namens "Dampfkessel", das sich, laut Eigenauskunft, "täglich von der urigen Skihütte zur flippigen Après Ski Schirmbar wandelt." Ein bisschen Anlass zum Feiern gab es diesmal ja sogar auch.

© SZ vom 10.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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