Serie zur Leichtathletik-WM, Teil 1:Am Anfang der Zukunft

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Der Grundschullehrer Patriz Ilg wurde 1983 erster Weltmeister im Hindernislauf - als Zeitzeuge des Wandels vom Amateursport zur Kommerz-Leichtathletik.

Michael Gernandt

Am 15. August beginnen die 12. Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Berlin. Es ist das größte Sportereignis auf deutschem Boden in diesem Jahr und der Saisonhöhepunkt eines Sports, der die Extreme bündelt. Die Leichtathletik mit ihren 47 Disziplinen gilt immer noch als der wichtigste Kernsport des olympischen Programms. Kein anderer Sport bringt Sieger aus so vielen verschiedenen Ländern hervor wie sie. Andererseits leidet sie besonders unter den Phänomenen der Moderne wie Kommerzialisierung oder Doping. In einer fünfteiligen Serie erzählen Teilnehmer verschiedener Weltmeisterschaften von der Leichtathletik ihrer Zeit.

12. August 1983: Im WM-Finale des 3000-Meter-Hindernislaufs von Helsinki stürzt der amerikanische Favorit Henry Marsh. Patriz Ilg rennt dem Titel entgegen. (Foto: Foto: dpa)

Steil sticht der Weg hinab ins Tal des Kocher. Aus fast 700 Metern Höhe Normalnull, ausweislich eines Schilds an der A7: "Europäische Wasserscheide". Ausfahrt Westhausen und noch fünf Kilometer westwärts. Dort die Gemeinde Hofen, Ostalb also, jenes Fleckchen Erde, über das der heilige Patrizius schützend seine Hand hält. Tiefe schwäbische Provinz, lauschige Beschaulichkeit, Wald und Wiesen überall, schmucke Einfamilienhäuser, geordnete Gediegenheit, wohin der Blick auch fällt und vor allem - beispiellose Ruhe. Kein Lärm dringt auf die Terrasse, die sich anschließt an den Wintergarten, üppig bewachsen mit mediterranen Pflanzen. "Diese ländliche Ruhe brauche ich auch", sagt der Hausherr.

Der Herr im Haus ist Patriz Ilg, 51, unverkennbar ein Landsmann der ostälbi-schen Region. Die Einsamkeit der Wälder rund um Hofen hatte ihm schon vor drei Jahrzehnten die Kraft gegeben, die er benötigte, um im Sport den höchsten Grad zu erlangen. Ilg gewann 1983, nach dem EM-Sieg im Jahr zuvor, bei der ersten Weltmeisterschaft der Leichtathleten in Helsinki Gold im 3000-Meter-Hindernislauf, war weltweit Bester einer Disziplin, die wegen ihrer Tücken, der bockigen Holzhindernisse und glitschigen Wassergräben, eigentlich eher den Typ harter Hund bevorteilt und nicht die Sensibelchen der Laufbahn. Zu denen zählte Ilg gelegentlich: Wenn sein Körper auf den Stress des Sports mit störender Empfindlichkeit reagierte.

Unvergessener Urschrei

Ilg beantwortete solche Schwächephasen mit der Stärke seines Kopfes. Wie vor der WM im Finnischen, für die er sich, weil von Magen-Darmproblemen geplagt, zu Hause nur so gerade eben hatte qualifizieren können. Kopf und Trainer Jürgen Mallow empfahlen damals: ausheilen, Neuaufbau und Strategieentwurf für das Finale in Helsinki. "Ich hatte die Taktik für jeden Meter des Endlaufs vorher Dutzende Male durchgespielt und gewusst: Geht der Plan auf, gewinne ich", erinnert sich nun Patriz Ilg. Unvergessen auch: Sein Kniefall hinterm Zielstrich, die himmelwärts gestreckten Fäuste, der Urschrei. Energie und Emotion, lang aufgestaut, alles musste raus.

In die Knie gegangen sind Anfang der achtziger Jahre auch noch andere, regelrecht eingeknickt die Herren der Ringe im IOC und ihre Erfüllungsgehilfen im Weltverband der Leichtathleten IAAF angesichts von Forderungen des Westens, einem Anachronismus namens Amateur den Garaus zu machen; die Heuchelei zu beenden, mit der man den Text der IAAF-Regel 51 meinte schützen zu müssen: "Ein Amateur ist eine Person, die nur aus Liebe zum Sport an Wettkämpfen teilnimmt und für den Sport Erholung ist." Über derlei die Realität verspottendes Geschwurbel, zu Papier gebracht, als Englands Gentlemen-Sportler das Laufen lernten, lachte die ganze Welt. Vor allem die des Ostblocks, wo Spitzensport alles andere als Erholung war - sondern staatlich gelenkter Broterwerb.

Gleichwohl zeterten Funktionäre der UdSSR und der DDR am lautesten, als sich IOC und IAAF anschickten, die Regeln umzuschreiben. Sie sorgten sich um den Vorsprung, den ihre Athleten gegenüber den sozial schlechter gestellten West-Konkurrenten besaßen. Lieber würden sie applaudieren wollen, wenn das IOC nur fortführe, Athleten, die für eine Handvoll Dollar die Laufschuhe schnüren, des Olymps zu verweisen - wie einst die Heroen Jim Thorpe, Paavo Nurmi, Jesse Owens und Gunder Hägg.

Baden-Baden im Sommer 1981, IOC-Kongress: Das deutsche IOC-Mitglied Willi Daume soll auf Bitten seines Präsidenten Juan A. Samaranch einen Entwurf für eine zeitgemäße olympische Zulassungsregel vorlegen. Obwohl von seiner Mission nicht wirklich überzeugt, geht der Deutsche dem Amateurparagraphen tatsächlich an den Kragen. Er hatte erkannt, dass "der olympische Sport sich weitgehend außerhalb der Realität" befand. "Und was noch schlimmer ist, außerhalb der Gerechtigkeit." Die alte Regel sei "total unwahr, und Unwahrheit ist immer der Anfang von Inhumanität". Das IOC-Plenum stimmte dem Daume-Vorschlag zu, den internationalen Fachverbänden mehr Beurteilungsfreiheit bei der Auslegung der Zulassungsregel einzuräumen.

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Die IAAF, laut Samaranch "der wahre Pfeiler des olympischen Geistes", griff unter ihrem neuen Präsidenten Primo Nebiolo als erster Weltverband sofort zu. Anfangs scheuten sich die Verbandsfunktionäre noch, vom Ende des Amateurstatus zu reden, von seiner Liberalisierung oder vom Einstieg in die Kommerzialisierung; stattdessen nannten sie ihre neue Aufgabe "Fortschreibung des Zulassungswerks". Doch sie ahnten, dass der Zug nicht mehr aufzuhalten war.

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"Hoch gepokert"

Der Profisport nahm nun Anlauf auf Olympia. 1982 ließ die IAAF Athletengagen für Wettkampferfolge bei den Eintages-Meetings und für Werbung zu, ließ diese jedoch zunächst auf Treuhandkonten einfrieren. Bei der WM 1983, dem ersten Welt-Championat des Sommersports nach dem Baden-Badener Beschluss, zahlte die IAAF selbst noch keine Prämien. Die Athleten indes lernten schnell, den WM-Ruhm bei den Sportfesten in Zürich, Berlin und Brüssel zu versilbern. Erst in den Jahren 1993 und 1995 wurden die WM-Sieger mit einem Wagen deutschen Fabrikats belohnt, von 1997 an gab es fünfstellige Dollarbeträge für Medaillengewinner und 100.000 Dollar für einen Weltrekord.

Der ehemalige Weltklasseläufer Patriz Ilg aus dem weltentlegenen Hofen ist ein authentischer Zeuge dieser aufregenden Zeit des Umbruchs. Wie hat er sie erlebt? "Kurios und auch chaotisch. Wir haben die tollsten Dinger gedreht", sagt er und grinst, als er sich daran erinnert, dass ihm schon 1978 beim Kölner Meeting dessen Organisator Manfred Germar unter dem Tisch 800 Mark zuschob, die er dann tagelang in seiner Hosentasche herumtrug. Oder an die Phase, als noch keine Manager das Geschäftliche für die Athleten erledigten und diese in den Hotelgängen vor dem Büro des Veranstalters Schlange standen, um zum Abkassieren vorgelassen zu werden. "Wir konnten damals noch handeln um die Prämien."

Patriz Ilg wäre nicht Schwabe, hätte er nicht die sich bietenden Chancen genutzt, durch Vereinswechsel sein Konto aufzubessern. Der Heimatverein in Hofen konnte nicht zahlen, ein 100-DM-Angebot aus Kornwestheim ließ ihn kalt, aber beim Klub des Fürther Versandhauses Quelle hat er "hoch gepokert", ungeachtet landsmannschaftlicher Gewissensbisse ("Als Schwabe nach Bayern, das kannst du eigentlich nicht machen"). Ilg: "Bei der Grete (Quelle-Chefin Schickedanz/Anm. d. Red.) ging's uns gut." Als auch Adidas einen Vertrag anbot, war es ihm zunächst "peinlich, außer Klamotten sonst noch was zu verlangen". Ja doch, er habe "gut verdient" und ergänzt, weil ihn offenbar der Vergleich mit der heutigen Läufergeneration reizt: "Dafür mussten wir aber auch Leistung bringen." Er spricht von sechsstelligen Beträgen - die er nachversteuern musste. Man hatte Ilg steuertechnisch "völlig alleingelassen".

"An der Startlinie waren wir alle gleich"

Ein Nassauer der Laufbahn ist Patriz Ilg allerdings nie gewesen, Tingeltouren zu den Dollarhochburgen der Leichtathletik waren nicht sein Ding. Raubbau am Körper lehnte er ab. "Nach großen Meisterschaften war für mich die Mission meist beendet." Am Tag nach der WM in Helsinki stand der verbeamtete Grundschullehrer Ilg schon wieder vor seinen Schülern. Er habe, sagt er, mit dem im Sport verdienten Geld sowieso nur ein Ziel verfolgt: "Mein Eigenheim sollte möglichst schnell schuldenfrei sein."

Abgesehen vom Kurswechsel in Sachen Amateur: Was ist beim Hindernismann von der Leichtathletik im WM-Jahr 1983 sonst noch hängen geblieben? Er betont: Ihr hoher Stellenwert in Deutschland. "Wir profitierten noch von den Erfolgen bei Olympia '72 und den acht Siegen bei der EM 1982." Die Großthemen jener Zeit tangierten ihn weniger: der auch im Sport tobende Kalte Krieg und Doping, das Leistungen möglich machte, die heute noch schaudern lassen. "Ich war damals politisch nicht so interessiert. Ostblock-Athleten waren für mich Gegner wie Amis oder Briten."

Und die Athletenmanipulation? "War ein Tabuthema." Man registrierte wohl, sagt Patriz Ilg, verdächtige Pickel im Gesicht so manches Ostblockkonkurrenten, ging gleichwohl seiner eigenen Wege. Ilg lief nach der Devise: "An der Startlinie waren wir alle gleich." Auch keine Fragen, warum beim Länderkampf in Turin kurz vor der WM '83, als über Nacht überraschend Kontrollen angesetzt worden waren, die deutsche Teamführung ihren Kugelstoßer Udo Gelhausen durch den unverdächtigen Hochspringer Dietmar Mögenburg ersetzte und das dreist begründete: Der übt für den Zehnkampf? Nein, sagt Patriz Ilg, er habe davon erst Jahre später gehört - als Ilgs damaliger Kaderkollege Alwin Wagner, des Dopens geständiger Diskuswerfer und in den Turiner Vorgang eingeweiht, längst das Urteil über diese Epoche der Leichtathletik gefällt hatte: "Ja, so verlogen war die Welt damals."

© SZ vom 11.07.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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