Normalerweise, sagt Taliso Engel, würde ihn so ein knapp verpasster Rekord ziemlich ärgern. 29 Hundertstel haben ihm bei seiner Goldmedaille in Manchester gefehlt, um den eigenen Weltrekord im 100-Meter-Brustschwimmen zu brechen. Es ist das dritte WM-Gold für den stark sehbehinderten Para-Athleten in dieser Disziplin, doch dieser Titel bedeutet ihm am meisten: "Klar ist es ärgerlich, so knapp seine Bestzeit zu verpassen. Aber nach dieser Vorbereitung überhaupt Gold zu gewinnen, ist für mich etwas Besonderes."
Mit dieser Vorbereitung, wenn man sie denn so nennen kann, meint der 21-Jährige das vergangene halbe Jahr. Darin wollte er sich auf die anstehende Para-WM konzentrieren, gezielt an seiner Technik arbeiten und bessere Zeiten erzielen. Doch während des Silvestertrainingslagers im türkischen Antalya spürte Engel, dass der Druck im rechten Ohr seit dem Hinflug nicht weggegangen war. Er ging zum Arzt, die Diagnose: Eine Mittelohrentzündung als Folge einer verschleppten Mandelentzündung. "Danach habe ich Medikamente bekommen und erstmal vorsichtig weitergemacht, leider habe ich es so nicht richtig auskuriert", erinnert er sich.
Nach einer Mittelohrentzündung wird sein rechtes Ohr taub
Engel hatte schon damals das Gefühl, dass die medizinische Versorgung in Antalya "nicht die beste" gewesen sei. Weil die Schmerzen nicht aufhörten, ging er nach der Rückkehr nach Deutschland nochmal zum Arzt. Inzwischen hatten sich Blut und Eiter im Ohr gesammelt. In der Klinik in Nürnberg musste sein Trommelfell aufgeschnitten werden. Einen Monat lang konnte Engel danach keinen Sport machen, noch im März musste er Kortison nehmen.
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Seit dem Eingriff vor einem halben Jahr kann Engel nur noch die Hälfte hören, sein rechtes Ohr ist taub. Wenn er sich mit Freunden unterhält oder Anweisungen von seinen Trainern bekommt, müssen sie seitdem immer links von ihm stehen. Die Eingriffe stören natürlich sein Training, beschäftigen ihn aber vor allem privat: "Beim Schwimmen ist es nicht so schlimm, auf einem Ohr nicht mehr zu hören", sagt der Nürnberger. Am Anfang habe er Koordinationsprobleme gehabt, die die Vorbereitung nochmals beeinträchtigt hätten. Mit der Zeit sind diese aber weggegangen, rein sportlich ist er damit nicht stärker gehandicapt als vorher: "Im Wasser reicht es ja, die Pfeife zum Start zu hören", sagt Engel.
Der Gehörverlust stört vor allem im Alltag
Im Alltag beschäftigt ihn der Gehörverlust mehr. In Restaurants oder Bars, wo mehrere Leute gleichzeitig sprechen und im Hintergrund Musik läuft, fällt es ihm schwer, die Stimmen auf Anhieb zuzuordnen. Zusätzlich zu seiner angeborenen Sehbehinderung ist es so plötzlich viel schwerer, ohne Hilfen durch den Alltag zu kommen. "Was denn noch?", habe er sich manchmal gefragt, als er die Taubheit des rechten Ohrs bemerkte: "Menschen wie ich sind eben mehr auf den Gehörsinn angewiesen, ich habe damit immer viel kompensiert."
Auf dem rechten Auge sieht er sechs bis acht Prozent, auf dem linken sind es drei bis vier. Konkret bedeutet dies, dass er nur Dinge an den äußeren Rändern des Auges erkennen kann. "Deshalb stehe ich manchmal etwas schräg, um die Sachen besser sehen zu können", sagt Engel. "Ich kenne es aber nicht anders, in meiner Wahrnehmung sehe ich scharf." Im Alltag ist sein Handy eine große Hilfe. Wenn er Schilder nicht erkennt, fotografiert er sie und zoomt auf dem Foto näher ran.
Beim Schwimmen stört ihn die Sehbehinderung nur bedingt. Als Orientierung im Wasser schwimmt er entlang der schwarzen Linie auf dem Boden. Einzig am Ende des Beckens, wenn die Linie ein großes "T" bildet, hat er Probleme mit dem Abstand zum Beckenrand. "Manchmal komme ich dann etwas zu nah an den Rand oder bremse zu schnell ab, wenn ich eigentlich noch zwei lange und einen kurzen Zug hätte machen müssen", sagt Engel. "Aber beim Schwimmen merke ich meine Sehbehinderung deutlich weniger, als wenn ich Handball spielen würde."
Mit Lockerheit gegen den Druck
In der Schulzeit half ihm ein Bildschirmlesegerät, zu Hause scannte er die Arbeitsblätter ein, um sie auf dem Laptop zu bearbeiten. So erreichte er nicht nur seinen Realabschluss, sondern später noch das Fachabi und danach das allgemeine Abitur. "In dieser Zeit habe ich schon sechs oder sieben Mal die Woche trainiert, später wurde es bis zu zehn Mal", erinnert sich Engel. "Lange hätte ich diesen Stress aus Schule und Leistungssport nicht machen können, dann wäre ich daran kaputtgegangen."
War es sein besonderer Ehrgeiz, der ihm nicht nur in der Schulzeit, sondern auch in diesem schwierigen Jahr geholfen hat? "Ich glaube eher, dass es meine Lockerheit ist, die mich immer durchhalten lässt. Wenn man sich keinen großen Druck macht, lässt man den Kopf nicht so schnell hängen, wenn etwas nicht klappt", sagt Engel. Über sein Ohr habe er vor Freunden schnell gescherzt, jetzt richtet sich sein Blick wieder in die Zukunft.
Nach der Goldmedaille im Brustschwimmen folgte am nächsten Tag in Manchester ein zehnter Platz im 100-Meter-Kraulen, für das sich der 21-Jährige jedoch kaum regenerieren konnte: "Nach dem Rennen kam direkt die Dopingkontrolle, dann standen Siegerehrung und Interviews an, außerdem war ich nach der Stimmung in der Halle die ganze Nacht aufgekratzt und habe wenig geschlafen," sagt Engel. Die schlechte Platzierung ärgere ihn, sei aber selbst verschuldet, schließlich ist das verpasste Lockern und Ausschwimmen ein wichtiger Teil der Regeneration. Zum Abschluss der WM erreichte er den fünften Platz über 200 Meter Lagen. Zwar verfehlte er mit 1,28 Sekunden einen Podestplatz, aber: "Ich war schon immer besser im Brustschwimmen, die Technik liegt mir mehr als das Kraulen."
In einem Jahr finden die Paralympics in Paris statt, durch seinen Erfolg bei der WM ist ein Startplatz für ihn sehr wahrscheinlich. "Ein konkretes Ziel habe ich nicht, aber eine Medaille wär toll", sagt Engel. Er sieht den Wettkampf eher als Chance, seinen Lieblingssport auf höchstem Niveau auszuüben - und vielleicht dieses Mal seinen eigenen Rekord zu brechen.