Trainingsauftakt in Gelsenkirchen:Kaum zu glauben: Es herrscht Ruhe auf Schalke

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Autogramm für alle Altersklassen: Die Spieler von Schalke 04 signieren nach dem Trainingsauftakt für die Fans. (Foto: Christof Koepsel/Getty Images)

Zweite Liga, horrende Schulden, aber trotzdem ist die Stimmung auf Schalke beim Trainingsauftakt vor 2400 Zuschauern optimistisch. Machtkämpfe gibt es derzeit keine, die Verhältnisse sind geordnet - und der Schlüsselspieler ist auch schon da.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Die erste leibhaftige Begegnung mit seinem neuen Verein fand Schalkes neuer Mittelfeldchef Ron Schallenberg zum Davonlaufen. Voller Enthusiasmus war er zum Spiel in die Gelsenkirchener Arena gekommen, aber nach einer guten Stunde suchte er mitsamt seinen Begleitern schlagartig das Weite. Was er auf dem Rasen hatte sehen müssen, habe ihm "Angst gemacht", erzählte der bisher beim SC Paderborn beschäftigte 24-Jährige am Montag am Rande des Schalker Trainingsstarts im Parkstadion.

Zum Glück für Schalke 04 war es nicht der Fußball von Chefcoach Thomas Reis, der Schallenberg aus der Arena vertrieben hat, sondern ein Flitzer, der schockierend ins Bild drängte. Und genau besehen stand Reis seinerzeit auch noch gar nicht im Dienst der Gelsenkirchener. Auf der Bank saß Jupp Heynckes, der Gegner im UI-Cup-Spiel hieß Vardar Skopje, und Ron Schallenberg war fünf Jahre alt, als er seine Eltern bat, ihn in Sicherheit zu bringen.

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Dass er nun zurückgekehrt ist an den schaurigen Ort, liegt einerseits daran, dass die Schalker Scouts und Verantwortlichen schon seit Monaten auf ihn eingeredet haben, er möge sich für den Wechsel ins Ruhrgebiet entscheiden. Und andererseits daran, dass er sich die Kindheits- und Jugendliebe einigermaßen bewahrt hat, obwohl er mittlerweile ein Fußballprofi mit 95 Zweitliga-Einsätzen ist. "Eine gewisse Sympathie für den Verein hatte ich schon immer", sagt er. Sonst hätte er sich vermutlich nicht aus dem ruhigen Osten Westfalens in den wilden Westen Westfalens locken lassen, sondern lieber in den Norden zu Werder Bremen oder in den Süden zum VfB Stuttgart oder FC Augsburg - und damit auf geradem Weg in die erste Liga. Er habe sich trotz der höherklassigen Angebote "mit tausendprozentiger Überzeugung" für S04 entschieden, sagt er.

2400 Zuschauer empfingen den neuen Mann, den seine Vorgesetzten als potenziellen Schlüsselspieler und möglichen neuen Kapitän ansehen, beim Start in die Vorbereitung. Schallenberg äußerte sich beeindruckt über die beachtliche Kulisse und das Publikum, das die neuen Spieler - und die alten Helden von Ralf Fährmann bis Gerald Asamoah und Mike Büskens - begeistert empfing. Er gehöre nun einem "wirklich großen Verein" an, glaubt Schallenberg.

2400 Zuschauer besuchten den Trainingsauftakt im Norden von Gelsenkirchen. (Foto: Christof Koepsel/Getty Images)

Auch im Verein selbst hat man trotz der unbestreitbaren Deklassierung durch den mittlerweile fünften Abstieg ein hohes Ansehen von sich selbst. Weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit hatte Schalke neulich eine Hauptversammlung abgehalten, in der es Buh-Rufe nur für diejenigen Redner gab, die Kritik am Kurs des Klubs vorbringen wollten. Früher war es meistens umgekehrt: Die Kritiker verschafften sich unter Beifall lautstark Gehör - und Menschen in Nah und Fern amüsierten sich über den unverbesserlichen Chaosklub. Nun gab es bloß Applaus für die Vereinspolitiker und keinerlei Spott für die kühne Prophezeiung von Vorstandschef Bernd Schröder, in ein paar Jahren wieder zu den Top Six des deutschen Fußballs zu gehören - erste Liga, wohlgemerkt.

Auch die ehedem unterhaltsamen Machtkämpfe stehen zurzeit nicht mehr auf dem Programm. Für die beiden neu zu besetzenden Aufsichtsratsplätze hatten sich zwei Bewerber gemeldet - die ohnehin bereits dem Gremium angehörten. Eine Wahl wie in einem autoritären Staat. Den einzigen Tadel empfing Vorstandschef Schröder vom wiedergewählten Aufsichtsratsvorsitzenden Axel Hefer, weil immer noch der Werbepartner für die Brust fehlt. Ein Großverein mit 170 000 Mitgliedern und stets vollem Haus (auch jetzt wurde der Dauerkartenverkauf bei 40 000 vergebenen Tickets gestoppt) findet keinen Industrie-Sponsor? Da bekommen die jahrelang von russischen Millionen verwöhnten Schalker nicht nur den schrumpfenden Werbemarkt zu spüren, sondern auch den sportlichen Niedergang.

Gefragter Mann: Ron Schallenberg hätte vermutlich auch in der ersten Liga spielen können - entschied sich aber für Schalke 04. (Foto: Thomas Pakusch/Imago)

Immerhin: Schalke hat zwar die üblichen horrenden Schulden (circa 180 Millionen Euro), lebt aber in geordneten Verhältnissen. Sportlich sehen sie sich für den Saisonstart bereits gewappnet. "Wir könnten morgen schon spielen", sagt André Hechelmann, 38, den der Verein im Sommer vom Chefscout zum Sportchef befördert hat. Als Hechelmann vor zwei Jahren an Rouven Schröders Seite nach Gelsenkirchen kam, herrschten ganz andere Zustände: En gros betrieb das neue Sport-Management Import- und Export-Geschäfte am Transfermarkt, um bezahlbare Verhältnisse im Kader zu schaffen.

Nun kann es sich Hechelmann leisten, im Poker mit der TSG Hoffenheim um den Wechsel von Linksaußen Marius Bülter cool zu bleiben. Vor zwei Jahren hätte man den Handel, bei dem vier oder fünf Millionen Euro Ablöse in Aussicht stehen, unbedingt machen müssen - notfalls für die Hälfte. Jetzt kann Schalke glaubhaft behaupten, Bülter lieber zu behalten, wenn der Preis nicht stimmt. Zumal sich der aus Mainfranken stammende Hechelmann mit Zahlen auskennt: Er hat eine Bankausbildung und ein BWL-Studium absolviert, bevor er über ein Verwaltungspraktikum bei Mainz 05 in den Fußball kam und sich zu Schröders engstem Mitarbeiter entwickelte.

Dass Bülter - der erfolgreichste Schütze der Vorsaison - im Team bleibt, ist dennoch unwahrscheinlich. Der 30-Jährige strebt aus sportlichen und finanziellen Gründen in die erste Liga; vor fünf Jahren hatte er noch in der Regionalliga gespielt. Chefcoach Reis sagt zwar, "im Moment" habe er Bülter eingeplant, doch er weiß den Fall einzuordnen. Die Ambitionen bleiben ohnehin die gleichen, wie Reis nun erklärte: "Ich habe der Mannschaft gesagt: "Wir wollen aufsteigen, das muss das Ziel sein."

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