In einem Spiel, in dem sich die Ereignisse am Ende zu überschlagen schienen, war womöglich das Erstaunlichste, dass gerade das nicht passierte, das in so einem Spiel fast immer passiert: Bo Svensson sah keine gelbe Karte. Zwölfmal, so oft wie kein anderer Bundesligatrainer, wurde der Mainzer Coach schon verwarnt. Doch in diesem Duell, dessen entscheidende Szene er kurz nach Schlusspfiff vor versammelter Journalistenschar in der Mixed Zone ungefragt und etwa ein Dutzend Mal als "Skandal" bezeichnete, kam er tatsächlich ohne aus.
Wobei es zur ganzen Wahrheit gehört, dass er wohl nur verschont blieb, weil der Kompetenzbereich des Schiedsrichters in besagter Mixed Zone endet. Denn so blieb Referee Matthias Jöllenbeck nichts anderes übrig, als seine Unterredung mit Svensson im Innenraum des Mainzer Stadions kurz nach ihrem Beginn sichtlich frustriert wieder zu beenden. Dabei wäre Gelb sicher angemessen gewesen.
Jöllenbeck hatte wohl gehofft, den enormen Ärger des Dänen im direkten Gespräch, noch immer vor den Augen der Medienvertreter, etwas abmildern zu können. Eine Fehleinschätzung. "Ich verstehe, dass er die Entscheidung erklärt haben möchte", sagte Jöllenbeck bei seiner letzten Station auf dem langen Wege von einem Mikrofon zum nächsten: "Aber ich bin enttäuscht." Svensson habe eine Fehlentscheidung von ihm bei einem Spiel vor zwei Jahren aufgebracht, für die sich der Referee schon damals entschuldigt habe. "Das zeigt mir, dass man mit einigen Leuten wohl nicht so groß in den Austausch treten kann."
Anlass war die Entscheidung Jöllenbecks in der zehnten Minute der Nachspielzeit, den Gästen des FC Schalke 04 einen Elfmeter zuzusprechen. Nach einer Flanke in der siebten Minute der Nachspielzeit, die der Mainzer Torwart Robin Zentner souverän entschärfte, sprang die Schalker Bank plötzlich auf und belagerte den vierten Offiziellen. Die Bilder, die sich Jöllenbeck kurz darauf auf dem VAR-Bildschirm ansah, zeigten den Grund: Verteidiger Anthony Caci hatte seinen Gegenspieler Marius Bülter völlig unnötig am Trikot gezogen.
Dass Bülter keine Chance hatte, an den Ball zu kommen, dass Bülter zuvor Caci auch am Kragen dessen Trikots zog - all das hinderte Jöllenbeck nicht zu tun, was er tat. Und so erzielte Bülter dann in der zwölften Minute der Nachspielzeit vom Elfmeterpunkt souverän den Treffer zum 3:2-Endstand, nach einer Halbzeit die 59 Minuten und elf Sekunden dauerte. Noch viel wichtiger: Bülter erzielte den Treffer, der für Schalke nun den 15. Tabellenplatz bedeutet. Der Aufsteiger liegt jetzt mit 30 Punkten zwei Zähler vor Stuttgart und Bochum.
"Ich glaube, ich wäre nicht an den Ball gekommen", gab Bülter anschließend zu. Aber das Ziehen sei schon deutlich zu spüren gewesen, und da die Fernsehbilder ihn in diesem Eindruck bestätigten, fand er: "Den Elfmeter kann man schon geben." Warum man ihn sogar geben musste, erklärte Schiedsrichter Jöllenbeck so: "Ich habe ein relativ langes Halten gesehen, und vor allem hat es angefangen, bevor der Keeper den Ball gefangen hat. Es mag andere Meinungen geben, aber wenn ich die Bilder aus zwei Perspektiven sehe, ist es für mich klar."
Das Ziehen von Bülter an Caci hingegen sei kein Foul gewesen. Die Entscheidung, überhaupt an den Bildschirm zu gehen, sei für ihn auch wegen des Vorfalls in Bochum am 30. Spieltag ohnehin alternativlos gewesen.
Unterhaltsame 100 Spielminuten mit wildem Schlagabtausch und großen Tormöglichkeiten
Dass es nach Spielende kaum ein anderes Thema als diesen Elfmeterpfiff gab, war verständlich, aber auch etwas schade. Denn die beiden Teams hatten auch die rund 100 Spielminuten davor hoch unterhaltsam gestaltet. Zweimal war Schalke in Führung gegangen, zweimal hatte Mainz ausgeglichen.
Bezeichnend für das Schalke der Rückrunde waren die beiden Tore aus dem Spiel heraus. In der 26. Minute ging es bei den Gästen aus Gelsenkirchen nach einem Ballgewinn im Mittelfeld schnell: Am Ende des Konters reichten Bülter drei Übersteiger, um Innenverteidiger Andreas Hanche-Olsen so weit aus dem Zweikampf zu nehmen, dass ein Abschluss ins lange Eck ungestört möglich war. Es war Schalkes erste gute Torchance, sie blieb aber nicht die einzige - am Ende waren es 13 Stück. Ein zweiter Treffer wäre gut möglich gewesen, spätestens als Bülter frei vor Torwart Zentner auftauchte.
Stattdessen machte Hanche-Olsen kurz nach Wiederanpfiff seinen Fehler wieder gut und bereitete nach einem Eckball mit einem kraftvollen Kopfball für den Treffer durch Leandro Barreiro vor (53.). Das 1:1 hielt nicht lange, in der 60. Minute schalteten die Schalker nach einem Ballgewinn erneut auf eine Weise um, wie man sie in der Hinrunde so gut wie nie erlebt hatte: Axel Král, Kenan Karaman und Torschütze Tom Krauß spielten eines der schönsten Schalker Tore in dieser Saison heraus. Ebenfalls schön, wenn auch nicht herausgespielt, war der Freistoß des Spaniers Aarón Martín, der den Ball aus 20 Metern gefühlvoll zum 2:2 in den Winkel hob (70.).
Gerade in der zweiten Hälfte ließ das Geschehen auf dem Rasen kaum Zeit zum Durchatmen. Svensson hatte mit einem offensiven Wechsel zur Pause (Stürmer Weiper kam für Verteidiger Da Costa) schon früh seine sonst obligatorische Fünferkette aufgegeben und so den wilden Schlagabtausch mit großen Tormöglichkeiten auf beiden Seiten ein Stück weit heraufbeschworen. Er war wohl davon ausgegangen, dass seine Mannschaft dabei im Vorteil wäre. Leidenschaftlich kämpfende Schalker bewiesen das Gegenteil und machten ihr bestes Auswärtsspiel der bisherigen Saison. Bereits zum sechsten Mal in dieser Saison (und zum dritten Mal seit Mitte März) punkteten die Schalker durch Tore in der Nachspielzeit, dreimal (beim 2:2 in Mönchengladbach, beim 1:1 in Augsburg sowie nun in Mainz) durch Elfmeter des nervenstarken Marius Bülter.
Erneut machen die Schalker Fans das Auswärtsspiel zum Heimspiel
Das zentrale Thema der Nachbetrachtung blieb dennoch der Elfmeter, besonders bei Bo Svensson. "Die Wortwahl bedaure ich", sagte er später, sichtlich beruhigt und mit den Aussagen Jöllenbecks konfrontiert: "Aber meine Meinung bleibt." Den ausbleibenden Pfiff als klare Fehlentscheidung einzuschätzen und daher zu revidieren, könne er nicht nachvollziehen.
Wunderbar egal hingegen war diese x-te VAR-Diskussion (zumindest für den Moment) nach Abpfiff den Schalker Fans. Wie in Sinsheim vor zwei Wochen war es ihnen trotz tapfer dagegen ansingenden Mainzer Fans ziemlich gut gelungen, das Auswärts- erneut zu einem Heimspiel zu machen. Und so schallte es nach Spielende aus dem Gästeblock, aber bei weitem nicht nur von dort: "Schalke ist der geilste Klub der Welt."