Was sich Magnus Carlsen während der dramatischen achten Partie bei der Schach-WM gedacht hat, dürfte ein Geheimnis bleiben. Denn der verstimmte norwegische Weltmeister verließ nach der Niederlage gegen seinen Herausforderer Sergej Karjakin in der Nacht zu Dienstag die Pressekonferenz, noch ehe diese angefangen hatte. Kaum jemand hat das für möglich gehalten: dass der 25-Jährige seine Nerven verliert und der Außenseiter nach acht von zwölf Partien mit 4,5:3,5 Punkten führt. Der offensiv spielende Norweger gilt als haushoher Favorit im New Yorker Fulton Market Building. Er ist der 16. Weltmeister der 130 Jahre alten WM-Geschichte - einer der größten Spieler aller Zeiten. In seiner Heimat übertragen sie seine Partien stundenlang im Fernsehen, Einschaltquoten bis zu 40 Prozent. Carlsen der Superstar, die Werbefigur, der Jungmillionär.
Demgegenüber wirkt der auf der Krim aufgewachsene Karjakin eher unscheinbar. Zwar wurde er, früher als jeder andere Mensch, schon mit zwölf Jahren und sieben Monaten Großmeister. Doch derzeit steht der 26-jährige Wahlrusse nur auf Position neun der Weltrangliste.
Psychologische Kampfführung
In New York scheint sich nun ein Rollentausch zu vollziehen. Während Carlsen nach den ersten sieben Partien, die remis ausgingen, von der Defensivtaktik seines Gegners zermürbt wirkt, zeigt sich Karjakin strahlend optimistisch. Auch nach stundenlangen Partien gibt er smart Auskunft. Das Duell der ehemaligen Wunderkinder wird längst durch psychologische Kampfführung bestimmt.
Karjakin scheint Carlsen durchschaut zu haben: "Okay, ich habe mir seinen Ehrgeiz zunutze gemacht", sagte er nach seinem Sieg. Das Publikum hätte nämlich ein weiteres Remis wohl nicht verziehen. "Dann fragen die Leute, warum kämpft ihr nicht?" Defensivkünstler Karjakin hat also den stets auf Gewinn spielenden Norweger mit großem Geschick aus der Reserve gelockt.
Tatsächlich ging der Weltmeister in der achten Partie erhebliche Risiken ein. Ohne Not schwächte er seine Bauernstruktur und opferte einen zweiten Bauern. Doch Karjakin konnte diesen Fehler in Zeitnot nicht ausnutzen. Obwohl anschließend für Carlsen ein Remis greifbar war, wollte er partout gewinnen. Doch mit fünf Kraftzügen in Folge nutzte Karjakin seine Chance und schob, listig an einem Mattnetz bastelnd, seinen h-Bauern vor. Nach mehr als fünf Stunden Spielzeit opferte er seinen anderen, weit vorgerückten Randbauern (siehe Bild). Bauer a3 nach a2! Diese raffinierte Schlusspointe hatte Carlsen übersehen. Er gab auf, ohne sich das unvermeidliche Matt zeigen zu lassen.