Russlands Roman Schirokow:Mister Twitters langer Weg aus Istra

Lesezeit: 3 min

Arroganter Hallodri mit Alkoholproblemen, der mit einer vorgetäuschten Verletzung den Armeedienst verweigern wollte: Roman Schirokow ist in Russland umstritten. Dennoch wird der Mittelfeldspieler und Twitter-Fan im brisanten Bruderduell gegen Polen eine zentrale Rolle einnehmen. Eine erstaunliche Karriere.

Johannes Aumüller

Als Xavi 23 Jahre alt war, galt er schon als Chef im Mittelfeld des FC Barcelona. Als Bastian Schweinsteiger 23 Jahre alt war, hatte er schon drei deutsche Meistertitel gewonnen. Als Roman Schirokow 23 Jahre alt war, hatte er mit Profi-Fußball nichts zu tun, sondern spielte in einer Freizeitmannschaft in der unweit von Moskau gelegenen Kleinstadt Istra.

Erfolgsmoment: Roman Schirokow überwindet im ersten Spiel der Russen den tschechischen Torhüter Petr Cech zum 2:0. (Foto: REUTERS)

Wenn Russland an diesem Dienstagabend um 20.45 Uhr in seinem zweiten Gruppenspiel auf Polen trifft, hat der mittlerweile 30-Jährige von Zenit St. Petersburg wieder eine zentrale Rolle inne. Im russischen 4-3-3-System gibt es keinen richtigen Zehner, aber Schirokow ist der am weitesten vorne platzierte Mittelfeldspieler.

Abwechselnd mit seinem Vereinskollegen Konstantin Syrjanow soll er mit vertikalen Läufen in die Spitze den Dreier-Sturm unterstützen - so wie bei seinem Treffer beim 4:1 gegen Tschechien, als er nach einem Diagonalball von Andrej Arschawin alleine vor dem Tor auftauchte und Petr Cech überlupfte. "Ich denke nicht, dass es bei uns einen Chef gibt, sondern wir haben viele Schlüsselspieler", sagt er.

Erstaunlich ist, welcher Werdegang ihn in diese Rolle geführt hat. "Mister Twitter", wie ihn die russischen Fans wegen seiner ausgeprägten Leidenschaft für das Internetmedium nennen, hatte zwar früh als Talent gegolten und die Nachwuchsakademie von ZSKA Moskau besucht. Doch diejenigen, die ihn besser kennen, erzählen, er sei ein arroganter Hallodri gewesen: Schirokow nahm den Fußball nicht ernst, fiel mit Alkoholeskapaden auf und wollte mit einer vorgetäuschten Fußverletzung den Armeedienst umgehen - vergeblich.

Es ist ungewöhnlich, dass ein Spieler mit Mitte 20 noch den Sprung in den Profifußball schafft, doch irgendwann verpflichteten Schirokow immerhin Klubs aus dem unteren Drittel der ersten russischen Liga. Aber so richtig begann seine Karriere erst vor gut vier Jahren, als er vertragslos war und bei Zenit St. Petersburg unterschrieb. Der Trainer dort hieß Dick Advocaat, heute verantwortlich für die russische Nationalmannschaft.

Polnische Elf in der Einzelkritik
:Opfer der Flugente im Strafraum

Torwart Wojciech Szczesny sollte die Nation retten, doch dann schwirrt er chaotisch umher und muss sich bei einem neuen Helden bedanken. Die drei Dortmunder Polen beginnen borussenhaft, Robert Lewandowski schießt das erste Tor der EM - nach der Pause verlieren aber auch sie den Mut. Die polnische Elf beim 1:1 gegen Griechenland in der Einzelkritik.

Thomas Hummel

Verblüffend schnell eroberte sich Schirokow damals einen Stammplatz, allerdings nicht auf seiner jetzigen Position im vorderen Mittelfeld, sondern in der Defensive: Bei St. Petersburgs 4:0-Sieg gegen den FC Bayern im Halbfinale der Europa League 2008 etwa spielte er Innenverteidiger. Manchmal kam er auch rechts hinten oder als Sechser zum Einsatz. Erst der italienische Trainer Luciano Spalletti, der 2010 den Klub übernahm, setzte Schirokow etwas offensiver ein.

Zuletzt agierte Schirokow dabei so überzeugend, dass ihn ein Gremium des russischen Fußballverbandes zum wertvollsten Spieler der abgelaufenen Saison kürte, in der er mit seinem Klub überlegen Meister wurde. Nachdem er zu seiner Zeit als Defensivspieler zwar schon zum erweiterten Kader der Sbornaja zählte, aber vom breiten Publikum noch als "nicht nationalmannschaftstauglich" eingestuft worden war, eroberte er sich auf der neuen Position auch im nationalen Auswahlteam einen Stammplatz. Dabei kam ihm unter anderem zugute, dass diese ohnehin wie ein Abbild seines aktuellen Klubs wirkt: Voraussichtlich stehen gegen Polen gleich sieben Akteure von Zenit in der Startelf.

Doch trotz seiner wichtigen Rolle in den beiden Mannschaften und trotz seiner zuletzt entwickelten Torgefahr (in dieser Saison 16 Treffer in 42 Pflichtspielen) ist Schirokow bei den russischen Fußball-Beobachtern umstritten. Nicht wegen seiner Leistung, sondern wegen seines Auftretens, das bisweilen an sein Verhalten in den verlorenen Karrierejahren erinnert.

Einmal attackierte er nach einem Spiel massiv seinen Torwart Wjatscheslaw Malafejew - den zweiten leidenschaftlichen Twitterer im russischen Fußball -, weil der angeblich einen Gegentreffer verschuldet habe. Wenig später schrieb er nach einem Sieg gegen den Rivalen Spartak Moskau: "Allen Schweinen Glückwunsch zur Niederlage." Und erst kürzlich stand er wieder im Mittelpunkt eines Skandals, als bei den Meisterschaftsfeierlichkeiten von Zenit die Anhänger die Spieler um Trikots baten. Und während ein Mitspieler nach dem anderen sein Trikot auszog, um es einem Fan zu übergeben, wies Schirokow alle Versuche brüsk zurück. Er wollte das Hemd lieber für sich behalten.

Auch kurz vor der Fußball-EM sorgte er noch einmal für Aufregung. Schirokow beschwerte sich, dass es in Warschau vom Mannschaftshotel zum Trainingsplatz so lange dauere. Trainer Advocaat kommentierte das so: "Schirokow redet gerne. Man muss das nicht ernst nehmen."

© SZ vom 11.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: