Bei der Arbeit zu sitzen ist nicht ungefährlich. Viele Büromenschen leiden, weil ihr Rücken nicht belastbar ist, weil sie zum Lümmeln neigen oder der teure Sessel schlecht eingestellt ist.
Der Arbeitsplatz von Natalie Geisenberger war grob über anderthalb Jahrzehnte die Rodelbahn. Einen Stuhl hatte sie auch, nur sah der anders aus. Statt auf einem Sitzkissen nahm sie auf einer Spezialschale Platz, statt vier Holzbeinen gaben zwei messerscharfe Kufen dem Sitzsystem Halt. Geisenbergers Untersatz schoss mit bis zu 130 km/h durch einen Eiskanal, mit ihr oben drauf, im Sommer beim Training, im Winter im Weltcup, bei der WM und bei Olympia.
Das ging über grob 15 Jahre. Nun hat Geisenberger, 35, ihren Rücktritt vom Leistungssport erklärt, und das hat unter anderem wohl mit den Rückenschmerzen zu tun, aber auch mit vielen anderen Gründen. "Es ist vorwiegend der Rücken, der beim Rodler wehtut", hatte Geisenberger einmal erklärt, "es geht auf den Körper, es geht auf die Psyche, es ist einfach anstrengend".
Geisenberger war auf der Jagd nach den runden Plaketten, doch es ging ihr auch um die Gemeinschaft
In der Hochphase ihrer Karriere war das, vor den Spielen 2018 in Pyeongchang in Südkorea. Heute muss sie niemandem mehr etwas beweisen, Geisenberger, die im Grunde vom Spaß des Bahnrhythmus motiviert war, vom Rausch der Geschwindigkeit und natürlich auch vom Siegergefühl, hat es weit gebracht: Sie ist die erfolgreichste deutsche Wintersportlerin bei Olympischen Spielen, und somit auch eine der Größten bei Weltmeisterschaften: Ihre Erfolge, Siege und Medaillen einzeln aufzuzählen, dauert fast so lange wie vom Start bis zum Ziel einer Rodelbahn. Sieben Olympiaplaketten, zunächst eine bronzene und dann hintereinander sechs goldene bei vier Reisen zu den Spielen von Vancouver 2010 bis Peking 2022. Ihre erste WM-Medaille gewann sie 2008 in Oberhof (Silber), ihre letzte auf der Bahn in Königssee (2021), insgesamt 16 Stück, darunter neun goldene.
Solche Medaillenlisten sind abstrakt, für eine Top-Athletin aber ist jede davon mit einer speziellen Erinnerung verbunden. Die eine ist stärker, die andere schwächer, ihre ersten Einzel-WM-Medaillen - Silber 2009 in Lake Placid und der erste WM-Sieg in Whistler - dürften solche Kerben in der Erinnerung darstellen. Geisenberger war eine ganze Karriere lang auf der Jagd nach diesen runden Plaketten, dabei ging es ihr auch um was ganz anderes: die Stimmung bei der Arbeit, die Gemeinschaft, auch wenn sie erst einen Zweikampf mit der lange gleichstarken Kollegin Tatjana Hüfner gewinnen musste. Und, klar: Es ging um die Natur, zu Hause in Miesbach und beim Training am Königssee, um die Berge, die Wälder und das Sommertraining in der Bahn, die Zeit des guten Wetters.
"Trainingsgruppe Sonnenschein" tauften sich die Berchtesgadener Rodler - neben Geisenberger waren da noch Felix Loch, der andere außergewöhnliche Einzelathlet, zudem Tobias Wendl und Tobias Arlt, genannt auch "die beiden Tobis" oder "Wendlarlt", und Georg Hackl, Rodelcrack der Generation zuvor, der das Material präparierte. Sonnenschein war der Name dieses Teams im Nationalteam also - das klang etwas übertrieben nach guter Laune, nach sorglosem Athletenleben, auch nach etwas bayerischem Mia-san-Mia, und durchaus nach einem ganz leichten Überlegenheitsgefühl, weil, über dieser Gruppe strahlte ja angeblich immerzu die Sonne. Aber was soll man sagen? Es war ja auch so.
Sie könnte vermutlich noch mithalten - nur, wofür?
Diese Gruppe hatte dann auch im dunklen Winter Erfolg, wenn die Sonne, falls sie sich überhaupt zeigte, den Menschen höchstens für ein paar Stunden den Rücken wärmt - auch jenen, die ihre Gruppe nach ihr benennen. Doch Geisenberger hatte stets genug Vorbereitung, genügend Kraft beim Start, und als sie 30 Jahre alt wurde, auch genügend Technik und Erfahrung. Zum Beispiel auch für die Passage zwischen den Kurven neun und zwölf in Pyeongchang 2018. Da hatten die Bahnarchitekten und -designer alles ausgereizt, was den Bob- und Rodelsport rasant wirken lässt. Die Rodler waren etwas stabiler unterwegs, doch auch die Top-Favoritin Geisenberger hatte Respekt vor dieser Kombination, in der auch sie alles verlieren konnte. Es ist ja nicht so, dass Rodel-Serienchampions nie verlieren können. Ein falsches Zucken mit dem Fuß beim Lenken, eine leicht zu spät angesetzte Kurve, und der Rodler kratzt ausgangs einer Steilkurve am oberen Abweiser, statt auf der Ideallinie zum Sieg zu fahren.
Doch Geisenberger hatte alles richtig gemacht. Es war die Zeit, in der die Konkurrenz auf Schwächen der schon älteren Rodlerin setzte. Aber, wie all die Jahre zuvor und noch die fünf danach hatte sie nun auch in Pyeongchang alles Erforderliche umgesetzt. Sie hielt die Linie ausgangs der Neun und Zehn, vermied einen zu großen Sprung über die Schwelle der Elf und verschwand auch schon wieder in Richtung Ziel zur nächsten Olympia-Goldmedaille.
Vermutlich könnte sie noch mithalten, nur, wofür? Geisenberger hat mit dem Hochleistungssport aufgehört, sie braucht kein Training und keine Rückenschmerzen mehr. Sie hat eine Familie, in der man auch ohne tägliches Training genügend Arbeit abkriegt, aber auch genügend Sonnenschein.