US-Sport:Wenn Neunjährige wie Profis gedrillt werden

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In den USA gibt es eine Jugendsport-Industrie, die laut einer Studie mittlerweile 15,3 Milliarden Dollar pro Jahr umsetzt (Foto: Ben Hershey / Unsplash)
  • Die Hoffnung auf eine spätere Profikarriere ist in Amerika zum Milliarden-Geschäft geworden, für die Klubs, aber auch für die Eltern.
  • Der Druck, der auf den Kindern lastet, wird häufig unterschätzt.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Da ist er also, der erste Sportler der Geschichte, der gezielt geplant und gezüchtet wurde. Dessen Eltern bereits vor der Schwangerschaft beschlossen haben, dass dieser Junge einmal ein Held werden muss. Todd Marinovich läuft an diesem Samstag im September über ein Footballfeld in der kalifornischen Wüste, er ist 48 Jahre alt und Spielmacher des Amateurvereins SoCal Coyotes. Nach dem lockeren 73:0 nimmt Marinovich seinen Helm ab und präsentiert eine Glatze-Zauselbart-Kombination, sein Gesicht ist von tiefen Furchen durchzogen. Dieser Typ hat offenbar einiges erlebt.

Es gibt viele Geschichten über ehrgeizige Eltern, doch die von Marinovich ist krasser, dramatischer und trauriger als die meisten anderen - und wer verstehen möchte, welch groteske Ausmaße das Geschäft mit der, ja, es lässt sich nicht anders sagen, Aufzucht von jungen Sportlern in den USA angenommen hat und warum die Amerikaner mittlerweile mehr als 15 Milliarden Dollar pro Jahr in die athletische Ausbildung ihrer Kinder investieren, der sollte diese Geschichte kennen.

"Todd hat alles bekommen: Erbgut, Erziehung, Training. Er kann nicht versagen"

Marinovich war der "Sportler aus dem Reagenzglas", so schrieb das Magazin Sports Illustrated im Jahr 1988. Der frühere Footballprofi Marv setzte die einstige Schwimmerin Trudi auf strenge Diät, als Todd in ihrem Bauch heranwuchs. Er dehnte die Muskeln seines Sohnes, da war der gerade mal einen Monat alt. Der Säugling wurde mit gefrorenen Rindernieren gefüttert, im Alter von drei Jahren schaffte Todd seinen ersten Klimmzug, später, als Grundschüler, las er Football-Spielzüge statt Comics. Sein Training ähnelte einer militärischen Ausbildung, es gab 13 Berater für Ernährung, Psychologie, Feinmotorik und anderes. Zu Geburtstagen von Freunden brachte der kleine Todd einen eigenen Kuchen für sich mit, weil er weder Zucker noch Mehl essen durfte.

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Was muss das für ein Druck sein, der auf einem Teenager lastet, dessen Vater verkündet: "Todd hat alles bekommen: Erbgut, Erziehung, Training, Möglichkeiten. Er kann nicht versagen."

Todd Marinovich galt als Ausnahmetalent. Hier bei einem Football-Spiel im Jahr 1989. (Foto: Bob Galbraith/AP)

Das Experiment gelingt zunächst: Marinovich wird Quarterback an der Elite-Universität USC, 1991 nimmt ihn der Profiklub Los Angeles Raiders unter Vertrag. Da ist er allerdings bereits abhängig von Marihuana und Kokain, er sagt zu seiner Mutter, und es kann keinen traurigeren Satz eines Sohnes geben: "Ich will nicht Todd Marinovich sein."

Nach zwei Spielzeiten und drei positiven Drogentests ist die NFL-Karriere vorbei. Der 24 Jahre alte Marinovich stellt fest, dass da noch ganz schön viel Leben übrig ist, er jedoch nichts anderes kann und kennt als Football. Er stolpert jahrzehntelang durch dieses Leben, im August vergangenen Jahres läuft er nackt durch das kalifornische Kaff Irvine. In seiner Hand: ein Beutel voll mit Crystal Meth und Marihuana. "Ich habe nie gelernt, wie ich mit dem Leben umgehen soll", sagt er nun. Und: "Ich mache meinem Vater keinen Vorwurf. Er hat das Beste gewollt."

Das Beste. Wollen das nicht alle Eltern für ihre Kinder, überall auf der Welt?

In den USA glauben viele Eltern, dass es das Beste für ihre Kinder sei, Sport zu treiben, viel Sport. Das klingt löblich, jedoch steckt dahinter auch wirtschaftliches Kalkül. Ein Vier-Jahre-Studium an einer Elite-Universität wie der USC in Los Angeles etwa kostet derzeit inklusive Miete und Verpflegung knapp 280 000 Dollar - wer kann sich das leisten? Talentierte Sportler haben allerdings die Chance auf ein Stipendium - mehr als drei Milliarden Dollar ließen sich US-Universitäten das im vergangenen Jahr kosten. Man kann in diesem Land also einen gesunden Geist über einen gesunden Körper finanzieren.

Es gibt in den USA kein Vereinswesen und kaum Verbandsförderung wie in Europa. Was es gibt: eine profitorientierte Jugendsport-Industrie, die laut einer Studie des Instituts Wintergreen Research mittlerweile 15,3 Milliarden Dollar pro Jahr umsetzt, doppelt so viel wie vor zehn Jahren. Sie speist sich aus der Furcht der Eltern, die sportliche Entwicklung ihrer Kinder nicht hinreichend zu fördern und damit die Aussicht auf ein oft dringend benötigtes Stipendium zu verringern - und einem Phänomen, das sich am besten mit dem Begriff "Lake-Wobegon-Effekt" beschreiben lässt.

Lake Wobegon ist ein fiktives Utopia, das der Radiomoderator Garrison Keillor in den 1970er-Jahren erfunden hat. In Lake Wobegon hält sich jeder Bewohner im Vergleich zu den anderen für überdurchschnittlich intelligent, attraktiv und reich - was freilich unmöglich ist. Keillor wollte den Zuhörern zeigen, dass der Mensch dazu neigt, sich selbst stets ein bisschen besser wahrzunehmen, als es tatsächlich der Fall ist - und seine Kinder für ein bisschen hübscher, schlauer und sportlicher zu halten, als sie wirklich sind. Eine Umfrage der Utah State University unter amerikanischen Eltern, deren Kinder an der Highschool (14 bis 18 Jahre) Baseball spielen, ergab vor Kurzem, dass knapp 40 Prozent überzeugt sind, dass ihr Kind es ins Team einer Elite-Uni schaffen wird; jeder Zehnte glaubt an eine Profikarriere. Tatsächlich liegt die Chance laut der Jugendsport-Statistik-Seite Scholarship Stats viel niedriger: 2,1 Prozent der Highschool-Baseballspieler schaffen es an die Uni, und nur 0,13 Prozent werden Profisportler.

Doch solche Statistiken scheinen Väter und Mütter nur umso mehr anzuspornen. Väter wie Lale Esquivel zum Beispiel. "Ich kann Talent bei Kindern erkennen - und ich weiß: Meine beiden Söhne sind besonders", sagt er. Esquivel ist Besitzer und Cheftrainer der Texas Bombers, eines Baseball-Jugendvereins im US-Bundesstaat Texas, in dem auch Kinder aus Kalifornien, New Jersey und dem Nachbarland Mexiko spielen. Das U 10-Team absolvierte allein in diesem Sommer mehr als 90 Partien, Auswärtsspiele fanden schon mal an der Ost- und der Westküste statt, die Endrunde in Florida. Ach ja: Die Kinder von Esquivel, Lale junior und Luke, sind zehn und neun Jahre alt.

"Ich muss mich manchmal daran erinnern, dass Joey noch an den Weihnachtsmann glaubt"

"Wir reden hier über ganz besondere Kinder, die es im Baseball weit bringen möchten", sagt Esquivel, der einst an der University of Miami gespielt und später zugegeben hat, seine Leistungen mit verbotenen Mitteln gefördert zu haben: "Ich will gewinnen, unbedingt, also suche ich überall nach Talenten. Gerade habe ich einen neun Jahre alten Spieler in der Dominikanischen Republik entdeckt." Ja, schon richtig gelesen: Esquivel fliegt neun Jahre alte Kinder ein, wenn er denkt, dass die ihm beim Gewinnen helfen können.

Travel Teams heißen Vereine wie die Bombers, die es mittlerweile in jeder Sportart gibt. Sie reisen durch die USA, sie kämpfen um Titel und die Aufmerksamkeit von Talentspähern. Der zehn Jahre alte Joey Erace ist eines dieser Talente, er kommt regelmäßig von seinem Heimatort im Bundesstaat New Jersey ins 2200 Kilometer entfernte Texas zu den Bombers, die laut aktueller Rangliste das zweitbeste U 10-Baseballteam der USA sind. Sein Vater Joe hat zu Hause im Garten für 15 000 Dollar einen Schlagkäfig errichtet und gibt mittlerweile für Trainerstunden mit ehemaligen Profis und Experten ungefähr 1200 Dollar pro Monat aus. Er schätzt, dass er bislang mehr als 30 000 Dollar in die sportliche Ausbildung seines Sohnes investiert hat. Noch mal: Joey ist zehn Jahre alt.

Dass seine Eltern derart viel Geld in seine sportliche Karriere investieren, muss für den Jungen ein enormer Druck sein. Oder, andersherum gesagt: Wie groß ist wohl der Druck auf Eltern, wenn ihnen eingeredet wird, dass ihr Kind es weit bringen könne, wenn sie nur ein bisschen mehr Geld ausgeben? "Ich will so oft wie möglich trainieren und gegen die besten Spieler der Welt antreten", sagt Joey. Das klingt süß und naiv. Doch gleichzeitig ist es todtraurig, wenn ein Zehnjähriger denkt, zu den Besten der Welt gehören zu müssen. Sein Vater behauptet, lediglich den Traum seines Kindes fördern zu wollen, gibt aber auch zu: "Ich muss mich manchmal daran erinnern, dass Joey noch an den Weihnachtsmann glaubt."

Glauben nicht alle Eltern, dass sie lediglich den Traum ihres Kindes fördern?

Der Jugendwahn wird zum Wirtschaftsfaktor

Die amerikanische Jugendsport-Industrie lebt von der Hoffnung (und auch der Verzweiflung) der Eltern - also redet sie ihnen ein, dass sich das Investment lohnen könnte, auch wenn ihr Kind nur mittelmäßig begabt ist. Es gibt ja nicht nur Travel Teams und Trainerstunden, es gibt: kostenpflichtige Internet-Ranglisten wie Middle School Elite, auf denen etwa ein acht Jahre alter Basketballspieler als "künftiger Profi" angepriesen wird. Es gibt Taktik-Apps für das Smartphone. Ernährungsberater. Veranstalter von Jugendturnieren. Hersteller von Sportgeräten, die bessere Leistungen versprechen. Equipment fürs Training. Nahrungsergänzungsmittel. Und es gibt die Stadt Westfield im Bundesstaat Indiana.

Das 37 000-Einwohner-Städtchen hat weder einen Profiverein noch eine Universität, dafür aber seit drei Jahren das 70 Millionen Dollar teure Grand Park Events Center mit 31 Fußballfeldern, 26 Baseballplätzen und einer 34 000 Quadratmeter großen Sporthalle. Der Football-Profiklub Indianapolis Colts wird in den kommenden zehn Jahren seine Saisonvorbereitung dort abhalten und dafür insgesamt 653 000 Dollar bezahlen. "Das ist gut fürs Ansehen", sagt Bürgermeister Andy Cook, der den Bau des Sportzentrums vorangetrieben hat: "Unser Geld verdienen wir jedoch mit Jugendturnieren." Travel Teams brächten oft die Familien der Spieler mit - die müssen irgendwo wohnen, essen, einkaufen: "Ich glaube, dass sich um Sportlerfamilien eine Industrie für unsere Stadt entwickeln lässt. Wir setzen auf ein gesundes Pferd."

Wie gesund ist dieses Pferd wirklich?

"Die Professionalisierung des Jugendsports hat in diesem Land epidemische Formen angenommen", sagt Moin Salah, Arzt der amerikanischen Olympia-Radfahrer: "Jeder möchte den anderen übertreffen, um den nächsten Schritt in Richtung Stipendium zu machen." Er berichtet von einer elf Jahre alten Golfspielerin, die wegen einer schlimmen Sehnenscheidenentzündung zu ihm gekommen sei. Beim Gespräch mit den Eltern habe er erfahren, dass die junge Sportlerin sechs Mal pro Woche jeweils drei Stunden lang trainiere und am siebten Tag an einem Turnier teilnehme: "Als ich ihnen gesagt habe, dass sie sich wegen Überlastung verletzt hat und eine Pause einlegen soll, hat mich der Vater angesehen, als sei ich verrückt geworden."

Was muss das für ein Druck sein, wenn einer glaubt, dass eine vom Arzt angeordnete Verletzungspause verlorene Zeit ist?

Salah behandelt in Los Angeles zahlreiche Jugendsportler, seine Erfahrungen decken sich mit einer Studie der University of Wisconsin, der zufolge allzu hartes Training kontraproduktiv sei und frühe Konzentration auf eine Disziplin zu Verletzungen und psychischen Problemen führen könne. "Ich sehe aufgrund der Überbelastung einige Abnutzungen, die normalerweise Menschen nach 20 oder 30 Jahren erleiden", sagt Salah: "Aufgrund des Drucks diagnostizieren wir sehr häufig Burn-out und Depressionen. Bei Eltern ebenso wie bei Kindern."

Der Aufwand ist immens, finanziell, emotional, zeitlich - und man muss die Frage stellen, wer es sich leisten kann, wie Joe Erace pro Jahr einen fünfstelligen Betrag auszugeben und sein Kind zu mehr als 100 Veranstaltungen zu begleiten. Es droht ein Kastensystem der sportlichen Ausbildung, bei der nicht Talentierte gefördert werden, sondern Privilegierte. Einer Studie der Sports & Fitness Industry Association zufolge nehmen 41 Prozent der Kinder, deren Eltern mehr als 100 000 Dollar pro Jahr verdienen, an organisiertem Mannschaftssport teil. In Haushalten mit einem Einkommen von weniger als 25 000 Dollar sind es gerade mal 19 Prozent.

"Ich lerne gerade erst zu akzeptieren, dass ich nicht perfekt bin"

Es gibt mittlerweile Berichte von Eltern, die Kredite aufnehmen, ihr Erspartes anzapfen oder nicht mehr in die Rentenversicherung einzahlen, um den Sport der Kinder zu finanzieren. "Man muss sich fragen, ob der zu erwartende Ertrag den Aufwand tatsächlich rechtfertigt", sagt Salah, selbst Vater von zwei sportlichen Söhnen: "Es ist unmöglich, bei Kindern im Alter von acht Jahren eine verlässliche Prognose zu treffen, ob sich das Kind zu einem großartigen Athleten entwickeln wird. Außerdem könnte das Kind aufgrund des Drucks wichtige Erfahrungen versäumen." Das derzeitige System fördere Egomanie: Wenn ein Kind nur persönliche Statistiken verbessern und mit spektakulären Aktionen auffallen will, dann vergisst es womöglich die unrühmliche Arbeit in der Defensive oder die Tatsache, dass es auch noch Mitspieler gibt. Dabei haben Spielfreude und Teamgeist noch niemandem geschadet, in keiner Sportart der Welt.

Und das Kind vergisst womöglich, dass Sport letztlich ein Spiel ist. Das führt zurück zu Todd Marinovich. Der hat nur eine Partie für die SoCal Coyotes absolviert, danach zwickte die Schulter. Das sei nicht so schlimm, sagt er, Football sei ohnehin nur ein Teil seines bislang erfolgreichen Entzugsprogramms. "Ich bin froh, dass ich noch lebe", sagt er. "Und ich bin froh, dass ich noch Football spielen darf."

Er will nicht mehr über seine Jugend sprechen oder seine Zeit in der NFL, dazu gibt es schon genügend Berichte und auch den Film "The Marinovich Project". Er tritt hin und wieder als Redner auf, will jedoch kein Prediger sein und kluge Ratschläge an junge Sportler und deren Eltern erteilen. Er sagt, und diesen Satz sollten sich alle hoffnungsvollen Jugendlichen und deren Eltern merken: "Ich lerne gerade erst, locker mit Fehlern umzugehen und zu akzeptieren, dass ich nicht perfekt bin. Erst jetzt habe ich wieder Spaß am Sport."

Marinovich absolvierte im September, wie er sagt, zum ersten Mal seit 33 Jahren ein Footballspiel nüchtern. Beim letzten Mal sei er 15 Jahre alt gewesen. Es mag helfen, wenn ein Kind mit den besten Trainern der Welt übt, wenn es Ratschläge von Profis bekommt und gegen andere Talente antritt. Das allerdings ist keine Garantie dafür, dass dieses Kind tatsächlich ein brauchbarer Sportler wird mit einem Stipendium an einer Elite-Universität. Und schon gar nicht: ein glücklicher Mensch.

© SZ vom 18.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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