Trainerwechsel bei RB Leipzig:Abschied von der Cola-Formel

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Zu selten Grund für gute Laune: Jesse Marsch, inzwischen ehemaliger Trainer von RB Leipzig. (Foto: Michael Sohn/AP)

Wer folgt auf Trainer Jesse Marsch? Erste Namen kursieren bei RB Leipzig bereits, die Belegschaft wird sich wohl nicht mehr jeden Chef vorsetzen lassen.

Von Javier Cáceres, Berlin

Man musste kein abgeschlossenes Referendariat in der Rechtslehre der Branche haben, um seit Freitagabend zu wissen, welche Gesetze zur Anwendung kommen würden. Die Schneeflocken tanzten um das Haupt von Oliver Mintzlaff. Doch weder der anheimelnde Niederschlag unterm Flutlicht noch der eisige Wind brachte den Geschäftsführer von RB Leipzig wieder auf Normaltemperatur. Im Gegenteil.

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"Desolat" sei die Leistung der Mannschaft bei der 1:2-Niederlage bei Union Berlin gewesen, "katastrophal", man habe ein - ebenfalls wörtlich - "beschissenes Spiel" abgeliefert. Eine solche Wortwahl wäre bei jedem Bundesliga-Boss aufgestoßen, bei Mintzlaff galt das umso mehr, weil er sonst eher nach Business School klingt denn nach Fußballplatz. Am Sonntag war es dann so weit: Nach "intensiven Gesprächen" und einer "tiefgehenden Analyse" der Lage, vulgo auch "Blick auf die Tabelle" genannt, war der Trainer Jesse Marsch aus Wisconsin, USA, seinen Job los. Er wird vorerst von seinem Assistenten Achim Beierlorzer ersetzt. Zum Zeitpunkt seiner Entmachtung saß Marsch wegen einer Corona-Infektion in häuslicher Quarantäne.

Marschs Beurlaubung ist auch eine Niederlage für Geschäftsführer Oliver Mintzlaff

Man muss den Leipziger Verantwortlichen wohl glauben, dass sie es sich nicht leicht gemacht haben. Marsch, 48, war der erste Trainer, den Mintzlaff (und sein Team) in diesem Sommer ohne Einbeziehung von RB-Mastermind Ralf Rangnick ausgesucht hatte, seine Beurlaubung ist demnach auch eine Niederlage für Mintzlaff. Ganz abgesehen davon, dass er mit Marsch seit Jahren befreundet ist - und mit ihm die Überzeugung teilt, dass der überfallartige Fußball nach RB-Art die branchenspezifische Entsprechung zur Coca-Cola-Formel darstellt.

Die Realitätsprüfung besagte am Sonntag aber, dass der Abstand von Leipzig nach 14 Bundesligaspielen zum Relegationsplatz (fünf Punkte) geringer ist als der zum ersten berechtigten Champions-League-Rang (sieben Punkte). In 21 Pflichtspielen hat Leipzig mehr Niederlagen (neun) als Siege (acht) erzielt. In der Champions League steht das Aus nach der Gruppenphase fest; am Dienstag will Leipzig gegen Manchester City den dritten Tabellenplatz wahren, um zumindest die Europa League zu erreichen. Das ist alles etwas wenig, wenn man sich vor Augen führt, dass der Vorjahreszweite RB "einen der drei, vier besten Kader der Liga" hat. Das waren die Worte Mintzlaffs, wobei es vielleicht treffender gewesen wäre, von einem der "teuersten" Kader der Liga zu sprechen.

"Wir wollten mit Jesse die Kernphilosophie wieder herausstellen. Das hat nicht geklappt": Oliver Mintzlaff, Geschäftsführer RB Leipzig. (Foto: Jan Woitas/dpa)

Frei von Baustellen ist das Personaltableau allerdings nicht, und das zählt zu den mildernden Umständen für Marsch. Das Innenverteidigerduo Ibrahima Konaté (FC Liverpool) und Dayot Upamecano (FC Bayern) wurde im Sommer nicht adäquat ersetzt; Kapitän Marcel Sabitzer durfte ebenfalls nach München; obendrein dreht der in Leipzig erfolglose Patrik Schick in Leverkusen auf, während RB-Topeinkauf André Silva nicht annähernd an die Zeit bei Eintracht Frankfurt erinnert. Zudem ging im Sommer der Sportdirektor Markus Krösche nach Frankfurt. Die Annahme, dass diese Figur - übergangsweise - durch Christopher Vivell (Technischer Direktor) und Florian Scholz (Kaufmännischer Leiter Sport) ersetzt werden könnte, erwies sich bislang als zu optimistisch. Nicht nur Marsch, auch diverse Spieler und Teile des umfangreichen Mitarbeiterstabs vermissen einen Boss mit Richtlinienkompetenz.

Mintzlaff wehrte sich am Sonntag gegen die "Legendenbildung", es mangele bei RB an sportlicher Kompetenz; man habe bei der Suche nach einem Krösche-Nachfolger "nicht aus der Hüfte schießen" wollen. Mittlerweile sei die Suche abgeschlossen. "Wir haben einen Sportdirektor gefunden. Wenn die Zeit da ist, werden wir ihn verkünden, und dann wird er bei uns anfangen", sagte Mintzlaff bei Sport1. Bislang galt der 1. Januar als idealer Einstellungstermin. Aber es kann sein, dass sich Leipzig bis Saisonende gedulden muss.

Was die Frage aufwirft, ob der künftige Sportdirektor in die Fahndung nach einem Marsch-Nachfolger eingebunden ist oder wird; der soll ja laut RB Leipzig "zeitnah" präsentiert werden. Die ersten Namen fliegen schon durch die Luft. Genannt werden anstellungslose Trainer wie Domenico Tedesco, Lucien Favre oder Daniel Farke - aber auch Coaches mit RB-Vorprägung, die derzeit in Lohn und Brot stehen: Ralph Hasenhüttl vom FC Southampton oder Roger Schmidt (PSV Eindhoven). Klar ist nur dies: dass sich die Belegschaft wohl nicht mehr jeden Chef vorsetzen lässt.

Am Ende zweifelte Marsch selbst, ob seine Spielphilosophie zur Mannschaft passt

"Nach Julian Nagelsmann hat die Mannschaft eine andere Entwicklung genommen, als sie sie noch zu Ralf Rangnicks und zu Ralph Hasenhüttls Zeiten hatte - weg vom klassischen RB-Fußball, hin zu mehr Lösungen im Ballbesitz", erklärte Mintzlaff. Das hatte Folgen: Nachdem sie unter Nagelsmann zwei Jahre lang vom süßen Gift des Balles genascht und sich am assoziativen Spiel gefreut hatten, litten sie unter Abstinenzsyndromen, als Marsch von ihnen verlangte, nur noch schnell umzuschalten und Räume zu attackieren. Einer Reihe von Spielern war das Training nicht fußballspezifisch genug - diverse Profis kamen sich vor wie bei einem Ausbildungskurs für die United States Marines.

"Wir wollten mit Jesse die Kernphilosophie wieder herausstellen. Das hat nicht geklappt, weil die Mannschaft nicht bereit war, diesen Matchplänen mit 100 Prozent Überzeugung zu folgen", sagte Mintzlaff. Und das bedeutete am Ende, dass sogar Spieler, die in der Kabine als Marsch-Enthusiasten galten, zu Häretikern wurden. Das galt etwa für den US-Nationalspieler Tyler Adams, wie Marsch ein RB-Gewächs, oder Dominik Szoboszlai, der sich unter Marsch in Salzburg bis in den Fokus von Real Madrid spielte. Am Ende stand ein taktisches Kauderwelsch mit einem unergründbaren Paradoxon: Ausgerechnet der ballverliebte Stürmer Christopher Nkunku wurde zum auffälligsten Spieler der kurzen Marsch-Ära, er erzielte beim 1:2 in Köpenick auch das einzige Leipziger Tor.

Dass die Elf immer tiefer in die Sackgasse geriet, spürte Marsch offenbar selbst. "Jesse kam nach dem siebten und nach dem zehnten Spieltag auf uns zu und sagte: Ich weiß nicht, ob ich der richtige Trainer für diese Mannschaft bin und meine Spielphilosophie wirklich zu diesem fantastischen Kader passt", sagte Mintzlaff. Vor wenigen Tagen machte Marsch das sogar selbst öffentlich. Am Ende war es das Spiel in Berlin, das eine endgültige Erkenntnis offenbarte, die Mintzlaff als "bitter" empfand: "Es war nicht der perfect fit." Zum Abschluss, immerhin, sprach er noch mal Amerikanisch.

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