Tour de France:Hundert Kilo im Rucksack

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"Ich will meine Mannschaft nicht mehr enttäuschen": Dem französischen Radrennfahrer Thibaut Pinot ist der Druck eines Kapitäns zu groß geworden. (Foto: Thibault Camus/AP)

Radprofis zählen zu den härtesten Sportlern, für ihr Leiden im Sattel werden sie bewundert. Was dabei kaum eine Rolle spielt, sind die psychischen Probleme, die dieser Sport manchen Athleten beschert.

Von Jean-Marie Magro, München

Seit 36 Jahren warten die Franzosen auf einen Landsmann, der die Tour de France gewinnt. Der Mann, der in den vergangenen Jahren wohl am nächsten dran war, heißt Thibaut Pinot, inzwischen 31 Jahre alt. 2019 war Pinot in den Pyrenäen unantastbar. Er gewann am Tourmalet und hängte die Mitfavoriten auch tags darauf am Berg allesamt ab. Selbst der spätere Tour-Sieger Egan Bernal räumte ein, dass er Pinot nicht folgen konnte und der Mann aus den Vogesen einfach "jenseits meiner Werte" fuhr. Ein paar Tage später, in den Alpen, gab Pinot auf. Auf einer Übergangsetappe war er mit dem Oberschenkel unglücklich gegen seinen Lenker gestoßen. Muskelverletzung. Unter Tränen stieg er auf der drittletzten Etappe aus.

Pinot musste in seiner Karriere immer wieder Rückschläge erleiden. 2018 stieg er beim Giro d'Italia auf der vorletzten Etappe aus, als er auf Podiumskurs lag - Lungenentzündung. Viermal gab er bei der Tour de France auf. Immer wieder kehrte er stärker zurück. Dann, 2020, erste Tour-Etappe. Wie das halbe Peloton stürzte Pinot in den spiegelglatten Straßen Nizzas. Er verletzte sich am Rücken. Bis heute kann er keine längeren Rennen fahren, ohne die Schmerzen zu spüren. In diesem Jahr fehlt die größte französische Hoffnung bei der Tour. Und ob Thibaut Pinot jemals wieder der alte wird, bezweifeln nicht nur Experten, sondern vor allem er selbst.

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Vorjahressieger Tadej Pogacar gewinnt auf beeindruckende Manier das erste Zeitfahren. Vor der ersten Alpenetappe liegt er damit fast zwei Minuten vor seinem mutmaßlich schärfsten Rivalen Primoz Roglic.

Pinot will den Druck eines Kapitäns nicht mehr spüren. In einem bemerkenswerten Interview mit der Sportzeitung L'Équipe erzählte er, dass er nicht mehr die 100-prozentige Verantwortung für ein Team tragen wolle: "Ich will meine Mannschaft nicht mehr enttäuschen." Der Druck im Radsport ist gewaltig, vor allem auf exponierte Fahrer. Von ihrer Leistung hängen nicht selten die Existenzen vieler Angestellter ab: von Teamkameraden über Trainer bis hin zu Physiotherapeuten und Köchen. Gibt der Teamkapitän auf oder enttäuscht er, stellt das ein Problem für das gesamte Team und Sponsoren dar.

Pinot ist dieser Druck zu groß geworden. "Mit dem Radsport aufzuhören, darüber denke ich sehr oft nach. Schon immer, seit ich 18 Jahre alt bin", sagte er der L'Équipe. In Klammern steht dahinter, er würde dabei lachen. Ernst gemeint ist die Aussage trotzdem.

Sprinter Marcel Kittel studierte dann lieber: "Ich bereue es keine Sekunde."

Ende Mai, es ist ein grauer Tag in Kreuzlingen, knapp hinter der Schweizer Grenze am Bodensee. Marcel Kittel verspätet sich um eine halbe Stunde. Zu Fuß sprintet er zur Terrasse des Café Sorriso. Weißes T-Shirt, eine gelbe Regenjacke unter die Achsel geklemmt, die Haare immer noch so akkurat wie zu Profizeiten gegelt. Pinots Worte sagten doch eigentlich alles, sagt Kittel, der 14 Etappen bei der Tour gewann und damit mehr als jeder andere deutsche Profi. Kittel beendete seine Karriere vor knapp zwei Jahren - im selben Alter befindet sich Pinot heute.

Damals fuhr Kittel für das Team Katusha-Alpecin. Er war Topverdiener und sollte eigentlich Siege garantieren. Doch vom Dominator der Sprintankünfte sah man in den letzten beiden Saisons nicht mehr viel. Kittel stand neben sich und fühlte sich vom Team nicht unterstützt. "Ich bin da in ein Loch gefallen", sagt er. Radsportler quälen sich wie wenige andere. Und Kittel wollte sich nicht länger quälen. Stattdessen begann er, Wirtschaftswissenschaften an der Uni Konstanz zu studieren und erfreut sich daran, seine beiden jungen Kinder nicht nur über Skype aufwachsen zu sehen: "Ich bereue es keine Sekunde."

Statt sich zurück in den Sattel zu kämpfen, spielte Taylor Phinney lieber Klavier

Der Radsport ist anfällig für psychische Erkrankungen. Peter Kennaugh, Olympiasieger auf der Bahn und Edelhelfer des vierfachen Tour-Siegers Chris Froome, hörte mit 29 auf. Mentale Probleme. Taylor Phinney, Etappensieger und Träger des "maglia rosa" beim Giro, verlor nach einem Sturz fast ein Bein. Statt sich zurück in den Sattel zu kämpfen, hatte er eher Lust auf Klavier und Malerei. Mark Cavendish, 157 Karrieresiege, darunter 31 bei der Tour, der letzte davon in dieser Woche, machte öffentlich, dass Ärzte bei ihm vor zwei Jahren eine Depression feststellten.

Erst Anfang des Jahres kündigte Tom Dumoulin, 30, an, dass er eine Pause brauche. Dumoulin ist einer der erfolgreichsten Fahrer der Welt: Giro-Sieger, Olympia-Silbermedaillengewinner und Weltmeister im Zeitfahren. "Ich habe mich verloren und ich muss herausfinden, was ich möchte. Sowohl als Mensch als auch als Rennfahrer", sagte er damals. Als er sich dies eingestand, habe er sich gefühlt, als hätte man ihm einen hundert Kilo schweren Rucksack von den Schultern genommen. Anfang Juni fuhr er nach halbjähriger Auszeit sein erstes Rennen, die Tour de Suisse.

Erfreut sich daran, seine beiden jungen Kinder nicht nur über Skype aufwachsen zu sehen: Sprintspezialist Marcel Kittel. (Foto: Christophe Ena/dpa)

Kittel kennt Dumoulin gut. Beide fuhren einst im selben Team. Sie telefonierten, nachdem der Niederländer seinen Entschluss bekanntgab. Kittel, der einen Sushi-Teller bestellt hat, erzählt, er habe vor kurzem eine Dokumentation über Cristiano Ronaldo auf Netflix gesehen. Ein Fußballer, der "gottgleich" gemacht werde und eigentlich nur durch seinen sehr speziellen, "arroganten" Habitus überhaupt mit seiner Situation umgehen kann, konstatiert Kittel. Sportler müssen funktionieren, so wie Ronaldo. Dabei seien viele Profis, auch im Radsport, eben überhaupt nicht so: "Viele sind vielleicht etwas sensibler, sensitiver und verletzlich", sagt Kittel.

Bei den Teammanagern spielten diese Faktoren aber fast nie eine Rolle, sondern nur die sportlichen Fähigkeiten: Braucht es einen Sprinter, einen Berg- oder Klassementfahrer? "Weil jeder, der an Profisport denkt, eben an diese Ronaldo-Typen denkt, aber vielleicht nicht an die Tom Dumoulins oder die Marcel Kittels", glaubt Kittel und deutet mit seinen Essstäbchen auf seine Schläfe.

Ist der Körper müde, dann ist es meistens auch der Kopf

Im Radsport geht es um Müdigkeit. Kittel nannte die Müdigkeit sogar mal die Basis des Sports. Nach 25, manchmal sogar 30 Stunden Training pro Woche, stellt sogar der Gang in den Supermarkt eine Herausforderung dar. Und ist der Körper müde, so ist es meist auch der Kopf.

Seit Anfang der 2010er-Jahre und der aufkommenden Dominanz des Team Sky (heute: Ineos-Grenadiers) spielen wissenschaftliche Faktoren, vor allem das Verhältnis zwischen Leistung und Gewicht, eine immer größere Rolle. Wer erfolgreich sein will, muss dünn sein. Das dachte sich auch der ehemalige französische Profi Clément Chevrier. Eines Abends war er bei seinem Freund und Mannschaftskameraden Romain Bardet zu Hause eingeladen und begann einen Streit mit dessen Frau. Sie hatte es nämlich gewagt, nicht nur einen, sondern zwei Schüsse Olivenöl zum Salat hinzuzugeben.

Chevrier war magersüchtig, keine Seltenheit bei Rennradfahrern. Selbst in der Winterpause aß er nur noch Salate und Früchte. Er nannte dies "manger de l'air", Luft essen. Irgendwann wog er nur noch 49 Kilogramm bei 1,77 Meter Körpergröße. Heute ist Chevrier 29 Jahre alt und hat seine Karriere hinter sich gelassen. Er ist nun Sommelier.

Ein anderes extremes Beispiel ist der Slowene Janez Brajkovic. Brajkovic wurde 2019 positiv auf Methylhexanamin getestet, eine illegale Substanz, die manchen Nahrungsergänzungsmitteln zur Steigerung der sportlichen Leistung beigemischt wird. Brajkovic beteuert allerdings, dass er das Mittel nicht aus Leistungsgründen genommen habe, sondern wegen seiner Bulimie. 20 000 Kalorien verzehrte Brajkovic an einem Tag und erbrach sie. Immer wieder und wieder und wieder.

Offenkundig zu selten wird den Profis geraten, einen Sportpsychologen aufzusuchen

Der Druck entsteht auch deswegen, weil vielleicht keine Sportart so vermessen ist wie der Radsport. Jeder Trainingstag ist nahezu auf die Minute und das Watt genau durchgetaktet. Montags Grundlagenausdauer, dienstags Intervalle, mittwochs aerobe Schwelle... Es gibt Trainingseinheiten fürs Berg- und Zeitfahren und sogar, um die Kurventechnik in der Abfahrt zu verbessern.

Die Psyche aber ist im Radsport noch oft ein Tabuthema, beklagte zuletzt etwa der Schweizer Profi Silvan Dillier. Erst zum Tourstart beklagte sich Patrick Lefevere, der Manager des Teams Deceuninck-Quick-Step, über seinen Sprinter Sam Bennett. Der nehme bei der diesjährigen Austragung nicht etwa wegen einer Verletzung nicht teil, sondern weil er Angst vorm Versagen habe.

Offenkundig zu selten wird den Profis geraten, auf die Dienste von Sportpsychologen zurückzugreifen. "Stattdessen erklärt man ihnen häufig, sie sollen sich nicht so anstellen", sagt der sportpsychologische Experte Markus Gretz, der selbst mit Profi-Rennradfahrern arbeitet. Bei den ganzen Trainingsfortschritten sieht Gretz vor allem eine Gefahr: die Reduktion des Fahrers auf den Sport. Dabei sollten gerade Teammanager, Trainer und Verbandsfunktionäre deren Entwicklung zu Persönlichkeiten fördern, fordert Gretz: "Sie sind nicht nur Radsportler, sondern sie sind auch noch Menschen, die andere Interessen und andere Stärken haben, sodass sie dann auch nach der Radsportkarriere gesund und glücklich weiterleben."

Das Abenteuer schweißt zusammen: Blitze in den Alpen, Massenstürze im Zielsprint

Marcel Kittel hat das geschafft. Frisch und zufrieden sieht er aus bei dem Treffen im Mai. Noch immer fährt er gerne eine Runde auf seinem Rennrad, manchmal auch mit dem noch aktiven Tony Martin. Der Stress der Profikarriere, der ständige Blick auf den Fitnesstracker: weg. Natürlich habe er auch schöne Tage als Profi verbracht, sagt er. Allein, sich mit den Teamkameraden über die gemeinsam durchlebten Abenteuer auszutauschen, habe zusammengeschweißt: Blitzeinschläge in den Alpen, "geistesgestörte" Abfahrten oder Massenstürze im Zielsprint.

Ob es für ihn okay wäre, wenn sein Sohn Lex, noch keine zwei Jahre alt, mal Profi werden möchte? Kittel lächelt. Natürlich habe er sich das auch schon gefragt. Er wolle ihm auf jeden Fall Alternativen anbieten: "Das muss auch gar nichts mit Sport zu tun haben. Wenn er tanzen, singen oder Klavier spielen will, finde ich das genauso gut." Er würde seinem Sohn jedenfalls ausführlich von seinen Erfahrungen berichten. Marcel Kittel, der einst schnellste Sprinter des Fahrerfelds, bittet nochmal um Entschuldigung für die Verspätung und zahlt. Einen Rucksack hat er nicht dabei. Er hat ihn vor zwei Jahren abgelegt.

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