Es gehört zum Erscheinungsbild der Tour de France, dass im üblichen Fahnenmeer entlang der Strecke die Farben dominieren, aus denen die Flagge der Gastgeber-Nation besteht: blau, weiß, rot. Das ist auch am Rande des langen Anstiegs zum Stausee von Tignes, dem Ziel der neunten Etappe, nicht anders. Doch wer die Straße am Sonntagmorgen hinauffährt, kann fast den Eindruck gewinnen, dass bei den wartenden Zuschauer häufiger noch als die französische Tricolore eine weiß-blau-rote Fahne zu sehen ist, deren Streifen horizontal statt vertikal angeordnet sind und auf der links oben noch ein Wappen zu sehen ist: zwei Wellen, ein Berg mit drei Gipfeln und drei goldene Sterne. Das ist die Fahne Sloweniens, der inzwischen prägenden Nation der Tour.
Auf einen ihrer Fahrer warten die slowenischen Zuschauer am Sonntag vergeblich. Der Vorjahreszweite und ursprüngliche Mit-Favorit Primoz Roglic stieg am Morgen aus, zermürbt von den Folgen eines Sturzes, wegen denen er am Vortag nur im Gruppetto der Sprinter angekommen war. Ihr anderer großer Held hingegen, Tadej Pogacar, kommt im Gelben Trikot vorbei - und so groß der Jubel unter seinen Fans sein mag, so verstört sind doch die kritischen Teile des Publikums wegen des 22-Jährigen.
Auf diese Art hat ein einzelner Fahrer schon lange nicht mehr das gesamte Peloton zerlegt
Das Wochenende in den Alpen hatten die Streckenplaner als erste große Prüfung der Tour ins Programm integriert - und es wurde eine unglaubliche Machtdemonstration des Vorjahressiegers Tadej Pogacar. Der Samstag war als Aufgalopp gedacht, der Sonntag mit der Ankunft in Tignes als einschneidender Abschnitt, aber Pogacar machte schon aus dem ersten Tag eine große Show: Er fuhr einfach mehr als 30 Kilometer vor dem Ziel aus der Favoritengruppe los, rauschte in einem irren Tempo über den Col de Romme und den Col de la Colombière, und aus der versprengten Ausreißergruppe holte er einen nach dem anderen ein, als spiele er eines dieser Jump-and-Run-Spiele am PC, in denen die Hauptfigur so viele Münzen wie möglich einsammeln muss. Und obwohl er sich bergab ins Ziel in Le Grand-Bornand noch merklich zurückhielt, distanzierte er alle anderen Klassementfahrer um mindestens 3:20 Minuten, die meisten noch um erheblich mehr.
"Hors Categorie", titelte die L'Equipe, nicht kategorisiert also, in Anlehnung an die bei der Rundfahrt üblichen Bezeichnungen für die schwersten der schweren Anstiege wie Tourmalet oder Galibier. Am Sonntag wiederum legte Pogacar beim Tagessieg des australischen Ausreißers Ben O'Connor gleich nochmal nach - und distanzierte die Rivalen wieder um eine halbe Minute.
Noch sind fast 2000 Kilometer zu bestreiten, noch warten Gemeinheiten wie der Mont Ventoux und zwei Bergankünfte in den Pyrenäen - und dennoch erscheint es kaum vorstellbar, dass es einen anderen Tour-Sieger geben soll als Pogacar, wenn er nicht stürzt oder erkrankt. O'Connor ist nach seinem Ausritt gerade Gesamtzweiter mit zwei Minuten Rückstand, aber die tatsächlichen theoretischen Herausforderer wie der Ecuadorianer Richard Carapaz (Ineos) sind schon mindestens fünfeinhalb Minuten zurück.
In anderen Zeiten, als Eddy Merckx noch fuhr, waren solche Aktionen wie die von Pogacar nach Le Grand-Bornand durchaus üblich. Aber in der jüngeren Vergangenheit hat noch selten ein Fahrer das komplette restliche Peloton derart zerlegt. Es gehört zwar zu den Gepflogenheiten, dass der Topfavorit auf den Gesamtsieg sich einen Tag herauspickt, an dem er dem Rest mal demonstrieren will, wie gut er drauf und wer im Feld die Nummer eins ist.
Aber der Brite Christopher Froome zum Beispiel fuhr bei seinen Antritten 2013 und 2015, die ihm und seinem Ineos-Team so viel Skepsis und so viele Debatten um seine Leistungswerte einbrachten, gerade mal eine Minute auf die schärfsten Konkurrenten heraus. Und der Super-Doper Lance Armstrong fuhr bei seiner legendären Attacke 2001, als er einen ganzen Tag lang den Leidenden gab und dann im Schlussanstieg nach Alpe d'Huez Jan Ullrich mit einem Blick zurück hypnotisierte, nur 120 Sekunden heraus.
6,3 Watt pro Kilogramm Körpergewicht - das ist im absoluten Grenzbereich des Natürlichen
Gewiss: Solche Vergleiche hinken immer ein wenig, es kommt immer auf viele Komponenten an, die genaue Strecke, die Qualität der Konkurrenz. Womöglich wäre der Abstand bei Pogacars Triumphfahrt etwas geringer gewesen, wenn Roglic oder Ineos-Kapitän Geraint Thomas nicht gehandicapt gewesen wären, aber eine ziemliche Freakshow war es in jedem Fall. Und Pogacar, der ohnehin gerne die Initiative ergreift, machte gar keinen Hehl daraus, dass es auch genau dies sein sollte. "Natürlich war es die Retourkutsche", sagte er; er sei bis dahin immer wieder angegriffen worden, und "Angriff ist die beste Verteidigung".
Aber so eine Art von Solo ist auch die beste Art, die Skepsis zu befeuern. Die gibt es bei Pogacar seit dem Vorjahr, als er in einem spektakulären Bergzeitfahren auf der vorletzten Etappe zwei Minuten schneller war als Roglic und diesem noch den sicher geglaubten Tour-Sieg entriss. In der ersten Woche der diesjährigen Tour triumphierte er sogar bei einem flachen Zeitfahren - obwohl er mit einem Gewicht von zirka 67 Kilo nicht gerade mit der Statur eines klassischen Zeitfahrers gesegnet ist.
Am Samstag nun stürmte er mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 20,8 km/h den Col de la Colombière hinauf. Für seine Auffahrt auf den Col de Romme (8,7 Kilometer lang, durchschnittlich 9,4 Prozent steil) taxierten die Diagnostiker seine Leistungswerte auf 6,3 Watt pro Kilogramm Körpergewicht; das bewegt sich im absoluten Grenzbereich dessen, was unter den Sportwissenschaftlern als natürlich gilt. Das Umfeld bei seiner UAE-Equipe - der Teammanager Mauro Gianetti etwa war früher in leitender Funktion beim chronisch dopingbefallenen Team Saunier Duval tätig - tut sein Übriges, um den Argwohn zu erhöhen.
Er würde Pogacar nun nur noch "Pogastrong" nennen, erklärte Antoine Vayer, in den Neunzigerjahren Trainer bei Festina, als dort der große Dopingskandal aufflog, und inzwischen einer der penibelsten Beobachter verblüffender Leistungen: "Die prinzipielle Krankheit des Radsports ist die Amnesie", twitterte er.
Diese Fahrt Pogacars am Samstag dürfte so schnell aber niemand vergessen.