Radsport:Im Tunnel ungebremst gegen die Wand

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Fuhr im vergangenen Jahr noch bei der Tour de France: Dominik Nerz. (Foto: imago/Rene Schulz)

Dominik Nerz war eines der aufregendsten deutschen Radsport-Talente. Doch nach vielen Stürzen auf den Kopf darf er nur noch spazieren gehen - mit 27.

Von Matthias Schmid, München

Manchmal, erzählt Dominik Nerz, fühlte er sich wie ein Mensch, der im zehnten Stock auf dem Sims des offenen Fensters steht. Es ist ein drastischer Vergleich, den der Radprofi wählt, um seine innere Zerrissenheit in den vergangenen Monaten zu beschreiben. Er weiß das. Aber das Bild schildere am besten die Situation, in die er geraten war. "Es ist sinnlos, jemandem in einer so ausweglosen Lage etwas ausreden zu wollen", sagt Nerz und merkt dann doch, dass die Analogie zu extrem ausgefallen ist. Er fügt leise hinzu: "Ich wollte mein Leben ja nie beenden."

Dominik Nerz ist seit ein paar Tagen kein Radprofi mehr, er musste aufhören. Mit 27 Jahren. Es war keine freie Entscheidung, gesundheitliche Probleme hatten sie ihm abgenommen. Der Kapitän der deutschen Equipe Bora-hansgrohe wollte zunächst weiterfahren, mit aller Macht. Er wollte unbedingt als erster Deutscher seit Andreas Klöden am Ende der Tour de France unter den besten Zehn landen. Klöden war 2009 Sechster geworden. Nerz hätte also den Rat der Mediziner ignorieren und weitermachen können, "niemand hätte mich davon abbringen können", sagt er im ruhigen Tonfall. Monatelang rang er mit sich, bis er sich dafür entschied, doch vom Fenster im zehnten Stock wieder ins Erdgeschoss herunter zu steigen. Er merkte, dass sein Körper die Leistung nicht mehr zuließ, die er von sich selber erwartete. "Ich werde an meinem frühen Rücktritt noch lange zu knabbern haben", glaubt Nerz, "weil mein ganzes letztes Leben weggebrochen ist."

Doping
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Der frühere Radprofi hält seine Doping-Bekenntnisse mittlerweile für einen Fehler. Bei André Schürrle vom BVB bricht eine alte Verletzung wieder auf.

Er prallt in einem unbeleuchteten Tunnel ungebremst gegen eine Wand

Sein bisheriges Leben bestand nur aus Radfahren. Es bestimmte sein Handeln, seine Gedanken, seinen Tagesablauf. Einfach alles. Deshalb hat er auch so lange an diesem Leben festgehalten. Der gebürtige Allgäuer ist ein Beispiel dafür, wie der Hang zur Sorglosigkeit, das Verdrängen von Schmerzen und ein fast krankhafter Ehrgeiz einen vor Kraft strotzenden Leistungssportler in einen klapprigen jungen Mann verwandeln kann. "Bis ich wieder vollständig genesen bin, wird mehr als ein Jahr vergehen", sagt er heute. Bei ihm hat vor allem die Summe seiner Stürze zum frühen Rücktritt geführt. Über sein genaues Bulletin mag er aber nicht sprechen. "Das ist mir zu privat", sagt Nerz. Er deutet nur an, dass ihm Kopfschmerzen, Schwindel und Orientierungsstörungen den Alltag mitunter zur Qual machen.

Allein im vergangenen Jahr fiel er in den Rennen sechs, sieben Mal auf den Kopf. "So genau weiß ich das gar nicht mehr", sagt Nerz. Sein schlimmster Sturz trug sich bei der Dauphiné-Rundfahrt zu, auf der Königsetappe prallte er in einem unbeleuchteten Tunnel ungebremst gegen eine Wand. Er hatte Glück, weil er sich nichts brach, die Prellungen am Knie, die Hautabschürfungen waren schnell verheilt, im Verborgenen blieben aber die unsichtbaren Schädigungen im Kopf. Er ignorierte sie, fuhr einfach weiter, zur nächsten Etappe. Anschließend zur Tour de France, wo er zweimal mit dem Kopf auf den Boden knallte und unter anderem einen Rippenanbruch erlitt. Er stieg aber erst aus, als ihn ein Magen-Darm-Virus ans Bett fesselte.

Diesen jahrelangen Raubbau am eigenen Körper bereut Nerz inzwischen, er sagt: "Ich hätte viel häufiger auf meine inneren Signale hören müssen und niemals bei der Tour starten dürfen." Aber zum Profi-Radsport gehören Schmerzen wie die Stürze und die Reifenwechsel. "Es ist da schwierig, Grenzen zu ziehen, weil wir immer unsere Leistung bringen wollen und uns damit ständig unter Druck setzen", sagt Nerz.

Heute gerät er schon an seine körperlichen Grenzen, wenn er sich nur bewegt. Er soll sanft Sport treiben, das raten ihm die Ärzte. Er probiert viel Neues aus, "aber im Moment bringt mich schon zügiges Spazieren außer Atem". Und Radfahren? Auf dem Rennrad sitzt er überhaupt nicht mehr. Vor allem an den schlechteren Tagen kommt er nicht einmal auf die Idee. An seinen besseren Tagen schnappt er sich ein Mountainbike, "weil mein Körper nach Bewegung schreit". Er fährt dann wie ein Einsteiger.

Ganz gemächlich.

Mit dem Training früherer Tage hat das alles nichts mehr zu tun. In seinen besten Zeiten verbrachte er bis zu 30 Stunden in der Woche auf dem Rad und legte 600 Kilometer zurück. Nerz war in der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt, wohl aber in der internationalen Radszene. Er galt als der beste deutsche Allrounder, der einzige, der sich auch mal bei der Tour hervortun könnte. Er gehörte unter anderem beim italienischem Team Liquigas zu den Edelhelfern des späteren Tour-de-France-Siegers Vincenzo Nibali aus Italien. Nerz wollte aber kein Wasserträger bleiben, er strebte nach Höherem und schloss sich dem US-Team BMC an, als Kapitän beendete er 2013 die Vuelta auf dem 14. Rang.

"Ich freue mich auf die Zukunft"

Ralph Denk holte Nerz dann 2015 zu Bora, der deutschen Mannschaft aus dem oberbayerischen Raubling. "Dominik war mein Wunschkandidat", erklärt der Teamchef, er sei stark im Kopf gewesen, habe außergewöhnliche Fähigkeiten gehabt. Mit ihm als Galionsfigur wollte Denk die mehrtägigen Rundfahrten hierzulande wieder zum Publikumserfolg machen. Denn gute Eintagesfahrer gibt es genügend in Deutschland. Die Sprinter Marcel Kittel und André Greipel zum Beispiel, den Klassiker-Spezialisten John Degenkolb oder den viermaligen Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin. Aber ein erstklassiger Klassementfahrer fehlt, diesen Platz sollte Dominik Nerz einnehmen.

Nerz lebt am Bodensee, bei Kreuzlingen in der Schweiz. Natürlich holen ihn die Gedanken an das alte Leben im neuen Leben manchmal ein. Aber er will nicht mehr zurückblicken, er sei ein handlungsfähiger Mensch, sagt er mit fester Stimme: "Ich freue mich auf die Zukunft. Ich habe viele Ideen im Kopf."

© SZ vom 03.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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