Premier League:Tuchel hält Chelsea bei Laune

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Thomas Tuchel (li.) und Christian Pulisic nach dem Einzug in die nächste Runde (Foto: BEN STANSALL/AFP)

Jede Entscheidung ist ein Treffer: Taktische Kniffe und ein Gespür für die richtigen Aufstellungen bescheren dem deutschen Trainer in London einen Einstands-Rekord - und das Viertelfinale in der Champions League.

Von Sven Haist, London

Beinahe wäre Thiago Silva auf einer Stadiontreppe an der Stamford Bridge zu Fall gekommen. Der Abwehrchef des FC Chelsea verlor vor lauter Freude über den Einzug seines Klubs ins Champions-League-Viertelfinale auf der Tribüne fast das Gleichgewicht. Gerade noch konnte sich Silva, der seit Wochen eine Muskelverletzung im Oberschenkel kuriert, auf den Beinen halten - ehe ihm die gesperrten Mitspieler Mason Mount und Jorginho jubelnd in die Arme fielen und ihn sicherheitshalber nicht mehr losließen. Der frühere England-Nationaltrainer Glenn Hoddle witzelte als Co-Kommentator des Senders BT, dass Silva mit seiner unfreiwilligen Einlage "den Fitnesstest" fürs nächste Spiel bestanden habe - fürs FA-Cup-Viertelfinale gegen Sheffield am Sonntag.

Schon zuvor hielt Silva, 36, nichts mehr auf seinem Sitzplatz. Lautstark versuchte der Brasilianer, der seine Karriere mit dem fehlenden Titel in der Königsklasse abrunden möchte, Anweisungen aufs Spielfeld zu übermitteln. Auf seiner Position zählt Silva nach wie vor zu den Ausnahmekönnern; sein Verständnis fürs Spiel erinnert an den Abwehrstrategen Paolo Maldini, der 2009 seine Laufbahn beim AC Milan erst mit 40 Jahren beendete. Die Lehre des weit gereisten Silva scheint nicht nur den Mitspielern ein Gefühl der inneren Ruhe zu vermitteln, sondern auch Trainer Thomas Tuchel, mit dem Silva schon vor seinem Herbstwechsel zu Chelsea bei Paris Saint-Germain zusammenarbeitete. Während Silva klar vernehmbar Instruktionen gab, stellte Tuchel in der Schlussphase des Rückspiels gegen Atlético Madrid sein zuvor gestenreiches Coaching fast ein - als würde er sich nicht mehr einzumischen brauchen, weil die Spieler eigenständig regeln, was noch zu tun sei.

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Es war ein angenehmes Gefühl für Tuchel - und das im Duell mit Diego Simeones wehrhaftem Atleti, einem der größten Spielverderber des Weltfußballs. 1:0 im Hinspiel, 2:0 im Rückspiel: Chelsea nahm den Tabellenführer der spanischen Liga so geräuschlos aus dem Europacup, wie es in den Jahren zuvor kaum einem Klub gelang. Die Londoner machten die Stärken des Gegners - Intensität, Robustheit, kompromissloses Verteidigen - zu ihren eigenen. "Wir hatten keine Angst, die Auseinandersetzung über die Physis auszutragen", erklärte Tuchel, man habe "die Schlacht" genossen. Die Times - im Januar noch starker Kritiker des Trainerwechsels und der Entlassung von Klubikone Frank Lampard - bilanzierte nun, Chelsea habe die Tuchel-Taktik "zur Perfektion" umgesetzt.

Timo Werner setzt seine Schnelligkeit beim Konter zum Führungstor in Szene

Im Hinspiel begegnete Tuchel der massiven spanischen Deckung mit dem bulligen Angreifer Olivier Giroud, der prompt per Fallrückzieher das Siegtor erzielte. Diesmal antizipierte er Atléticos risikobehaftetes Forechecking, indem er den pfeilschnellen Timo Werner aufstellte. Und der deutsche Nationalstürmer, der mit seinen Landsleuten Kai Havertz und Antonio Rüdiger erstmals unter Tuchel gemeinsam in der Startelf stand, lieferte sogleich in einem Elf-Sekunden-Konter die Vorlage für Hakim Ziyechs 1:0 (34.). Man habe gegen "ein besseres Team" verloren, gestand Simeone. Seinem Team hätte allerdings, noch bei Stand 0:0, ein Elfmeter zugesprochen werden können - plus möglicher roter Karte wegen Notbremse gegen Chelseas César Azpilicueta. In der Szene habe er sich "ein bisschen erschrocken", gab Tuchel zu. Trotz der "unglaublichen Teamleistung der Spieler auf dem Platz, auf der Bank und sogar auf der Tribüne" sei eben stets auch immer etwas Glück dabei.

Mit 13 Pflichtspielen ohne Niederlage zum Einstand, elf davon ohne Gegentor, hat Tuchel den klubinternen Startrekord von Trainer Luiz Felipe Scolari gebrochen (2008 in den ersten zwölf Spielen unbesiegt). Tuchels bisheriges Wirken hat Hand und Fuß - und vor allem: ziemlich viel Kopf. Denn der hochwertig ausgewogene Kader muss bei Laune gehalten werden, speziell nach den sechs Verpflichtungen für eine Viertelmilliarde Euro im Vorsommer. Bisher beweist Tuchel ein erfolgreiches Gespür bei der Verteilung der Einsatzzeiten. Jede Entscheidung ist ein Treffer: Selbst der selten benötigte Linksverteidiger Emerson dankte ihm seine späte Einwechslung gegen Atlético mit einem Tor (2:0/90.+4).

Im Umgang mit Chelseas verwöhnten Spielern hilft Tuchel seine Erfahrung aus zweieinhalb Jahren in Paris, wo er die Eigenheiten von Neymar und Kylian Mbappé moderieren musste. Im Training kommt ihm sein methodisches Wissen zugute: Hinter vorgehaltener Hand heißt es, seine Spielvorbereitung überträfe sogar die Akribie eines Pep Guardiola. Am meisten davon profitiert haben in den ersten sieben Tuchel-Wochen jene Spieler, die einst schon unter Vor-Vor-Vorgänger Antonio Conte eine tragende Rolle einnahmen: César Azpilicueta, Marcos Alonso, Andreas Christensen, Antonio Rüdiger und N'Golo Kanté. In ausufernden Taktikeinheiten drillte Conte damals die Spieler auf seine favorisierte 3-4-3-Anordnung - die nun auch Tuchel größtenteils verwendet, um sowohl Kontrolle als auch Stabilität zu erlangen. Beides Attribute, die maßgeschneidert sind für den französischen Weltmeister Kanté, mit dessen Umsicht und Laufstärke man laut Tuchel "einen halben Mann mehr" auf dem Platz habe. Der TV-Experte Hoddle wunderte sich im Live-Kommentar, ob "heute drei Kantés" auf dem Feld gewesen seien.

Nach sieben Jahren steht Chelsea wieder im Viertelfinale der Champions League. Tuchel nahm seinen Dienst übrigens ebenso innerhalb der Saison auf wie einst Avram Grant 2008 und Roberto di Matteo 2012. In beiden Jahren erreichte Chelsea das Finale.

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