Leicester City:Ein Klub zwischen Triumph und Tragödie

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Jamie Vardy (li.) und James Maddison: Ein Remis gegen Manchester United als Ausrufezeichen (Foto: Michael Regan/Pool/REUTERS)

Wir sind auch noch da: Mit einem 2:2 gegen Manchester United sendet Leicester City eine unmissverständliche Botschaft. Der Sensationsmeister von 2016 arbeitet eifrig daran, den Rückstand auf die Elitevereine zu verkürzen.

Von Sven Haist, London

Ein Spieler nach dem anderen verließ das Stadion, bis sich nur noch die verletzten James Maddison und Ben Chilwell auf ihren Sitzplätzen aufhielten und vor sich hinkauerten. Machtlos hatten sie von der Tribüne aus mitansehen müssen, wie Leicester City am letzten Spieltag der Vorsaison im eigenen Stadion - trotz zwischenzeitlichen Vorsprungs von 14 Punkten in der Tabelle - durch ein 0:2 gegen Manchester United die sicher geglaubte Qualifikation zur Champions League verpasste. Beide konnten ob der riesigen Enttäuschung ihre Tränen nicht zurückhalten, und so wäre es wohl auch den ebenfalls verhinderten Mitspielern Christian Fuchs, Caglar Söyüncü und Ricardo Pereira ergangen, wenn sie nicht bereits mit Abpfiff fluchtartig den Ausgang aufgesucht hätten.

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Man konnte jetzt nochmal an diese Szene Ende Juli zurückdenken - fühlte es sich an diesem Tag im Stadion doch so an, als würde sich die Zeit dieser wunderbaren Mannschaft dem Ende zuneigen. Einen deutlichen Gegenbeweis lieferte nun das 2:2 am Samstagnachmittag gegen Manchester United, bereits in den Wochen zuvor hatte sich nach Siegen über Manchester City und Tottenham Hotspur angedeutet, dass mit Leicester auch in dieser Saison wieder zu rechnen ist.

Trotz zweimaligen Rückstands nach Uniteds sehenswerten Treffern von Marcus Rashford (23.) und Bruno Fernandes (79.) gelang Leicester jeweils der Ausgleich: Erst traf Harvey Barnes per Fernschuss (31.), dann half ein Eigentor des Verteidigers Tuanzebe (85.), der einen Torversuch von Torjäger Vardy entscheidend abfälschte. Mit einem Punkt vor United (das den elften Auswärtssieg in Serie verpasste) bleibt Leicester vorerst auf den Champions-League-Plätzen. Das Remis der ärgsten Verfolger ermöglicht Spitzenreiter FC Liverpool im Heimspiel gegen West Bromwich am Sonntag die Chance, zu enteilen. Im Vorjahr unterlag Leicester am zweiten Weihnachtsfeiertag noch mit 0:4 gegen den späteren Meister Liverpool - eine einschneidende Niederlage, die den damaligen Lauf des Klubs zum Ende der Hinrunde abrupt stoppte.

Und die Prognosen im Sommer waren dann durchaus düster: Entweder würden die begabtesten Spieler - Maddison, Chilwell, Söyüncü und Harvey Barnes - in der anstehenden Transferperiode von sich aus auf einen Wechsel drängen, oder Leicester würde den verlockenden Angeboten der Spitzenklubs nicht widerstehen können. In den Vorjahren hatte der Verein schon die wichtigen Stützen Kanté, Mahrez und Maguire an die Rivalen in der Premier League verloren. Doch dann gelang Leicester das Fabelstück, bis auf Linksverteidiger Chilwell, der sich für circa 50 Millionen Euro zum FC Chelsea aufmachte, alle Leistungsträger im Klub zu halten - und das Team des anerkannten Trainers Brendan Rodgers sogar mit den Verteidigern Castagne (Bergamo) und Fofana (St. Etienne) noch besser aufzustellen.

Bei der Vergabe der Europapokalplätze stellen die Foxes nun eine ernsthafte Bedrohung dar für die titelfixierten Topvereine, die sich das Verpassen der Champions League mit ihren kostspieligen Kadern weit weniger leisten könnten als der Emporkömmling aus Mittelengland. Der Klub scheint dabei zu sein, von der Konkurrenz nicht bloß als ein vorübergehender Gast in den oberen Tabellenregionen geduldet, sondern immer mehr als ein Mitstreiter auf Sicht akzeptiert zu werden.

Kaum ein anderer Verein steht in England so sehr für die Parabel des Lebens wie Leicester - stets scheint der Klub zwischen Triumph und Tragödie zu wanken. Nach dem Aufstieg 2014 gelang dem Verein in der Folgespielzeit in nahezu auswegloser Lage im Endspurt der Verbleib in der Premier League. Ehe der auch schon abgeschriebene Trainer Claudio Ranieri dieses Team mit einem an längst vergangene Zeiten erinnernden Spielstil zur Sensationsmeisterschaft 2016 formte - als 5000:1-Außenseiter. Mit dem ersten Ligatitel der Historie erlebte Leicester City seinen persönlichen American Dream, der unabhängig von Herkunft und Sozialstatus vorgibt, allein mit harter Arbeit von ganz unten nach ganz oben emporsteigen zu können.

Als Vermächtnis an diese erfolgreiche Zeit gab der Klub vor knapp drei Jahren den Plan bekannt, einen Golfplatz in Seagrave, 20 Autominuten nördlich von Leicester, in ein neues Trainingszentrum für Profis und Jugend umzubauen. Der rund 100 Millionen Euro teure Komplex war eine Vision des thailändischen Eigentümers Vichai Srivaddhanaprabha - im Oktober 2018 bei einem Helikopterabsturz am Stadion verunglückt -, die gewährleisten sollte, dass sich Leicester zu einem konstanten Titelanwärter entwickelt. Anderthalb Jahre nach Baustart hielt die erste Mannschaft nun an Heiligabend die erste Einheit in der 185 Hektar großen Trainingsakademie ab, die neben hochmodernen Sporteinrichtungen über 14 Spielfelder und ein Nachwuchsstadion verfügt - sowie einen 9-Loch-Golfplatz. Das Statussymbol ist eine futuristische Kuppel, die einen klimatisierten Kunstrasenplatz überdacht. Die bisherige Anlage am Belvoir Drive, seit fast 60 Jahren das Zuhause, übernimmt das im Sommer akquirierte Frauenteam.

Mit der nagelneuen Akademie hat Leicester einen weiteren Schritt getätigt, um den Rückstand zu den Elitevereinen zu verkürzen. In der kapitalgetriebenen Premier League symbolisiert das mit Bedacht und Weitblick agierende Leicester City die Hoffnung vieler englischer Fußballfans, dass ihr Klub eines Tages auch zu den Großvereinen aufschließen kann - und steht für eine der letzten nahezu vorbehaltlosen Feel-good-Stories der vergangenen Jahre.

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