Paracycling:Neuanfang mit dem Rennrad

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Weltmeister Matthias Schindler zählt in Paris zu den Gold-Favoriten, das ist sein letztes großes Ziel. Nach Olympia will er seine Karriere beenden - für die Familie. (Foto: Oliver Kremer/Beautiful Sports/Imago)

Matthias Schindler sollte ein Tumor entfernt werden - als er nach der Operation wieder aufwachte, war er querschnittsgelähmt. Um das zu verarbeiten, entdeckte er das Radfahren als Ventil. Jetzt will er bei den Paralympics in Paris die Goldmedaille gewinnen.

Von Helene Altgelt

Matthias Schindler wollte hoch hinaus. In die Luft wollte er, nach oben. 2010 war das, Schindler war Polizist und Gruppenführer beim Unterstützungskommando (USK). Er wollte aufsteigen, im doppelten Sinne des Wortes, bewarb sich für eine Stelle als Hubschrauberführer. Bei der medizinischen Untersuchung wurde ein Tumor gefunden, der Befund traf den damals 32-Jährigen wie aus heiterem Himmel. Schindler ließ sich auf Rat der Ärzte hin operieren. Als er nach der Operation wieder bei Sinnen war, war alles anders. "Ich habe ab der Hüfte abwärts meine Beine nicht mehr gespürt", sagt Schindler. "Die waren einfach taub, wie eingeschlafen." Seitdem ist er querschnittsgelähmt. Hoch hinauszustreben, daran war nicht mehr zu denken. "Das war für mich damals schon ein richtiges Brett. Mir hat es den Boden unter den Füßen weggezogen", erzählt er. "Am Vortag vor der OP konnte ich noch alles machen, ich habe mich gesund gefühlt. Und am nächsten Tag, wenn ich aufs Klo musste, habe ich aufs Knöpfchen gedrückt und der Pfleger kam und hat mich sauber gemacht."

Heute ist der Regensburger 41 Jahre alt und hat gelernt, dass es nicht immer nur nach oben gehen muss. Nach vorn durchzustarten, ist ebenfalls eine Option. Und so wandte sich Schindler dem Radsport zu, mit großem Erfolg. 2021 gewann er in Tokio beim Einzelzeitfahren die Bronzemedaille, 2023 gewann er in seiner Disziplin die Europa- und Weltmeisterschaft. Das Radfahren war sein Rettungsanker, denn Schindler merkte, dass es auch schnell herabgehen kann. "Der Sport war am Anfang einfach ein Ventil, um die Operation zu verarbeiten. Um eine neue Perspektive, ein neues Ziel zu haben", sagt Schindler: "Das war mein Ausweg aus der mentalen Krise."

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Nach der Querschnittslähmung fiel er in ein Loch, der Kontrast zwischen seinen Träumen von gestern und der neuen Realität war hart. "Gefühlt war das kein lebenswerter Zustand damals", sagt Schindler. Besonders schwer war für ihn, dass nach der Operation keine Aussprache mit dem verantwortlichen Professor folgte, keine Entschuldigung. Die Operation wurde ihm als relativ risikoarm beschrieben. Heute glaubt Schindler, dass der Eingriff gar nicht ohne Schädigung möglich gewesen wäre, er hat immer noch einen Resttumor im Rücken.

Der Sport gab neuen Antrieb, die Olympischen Spiele waren das große Ziel

Schindler gelang es, sich langsam aus seinem Loch zu befreien, schöpfte neue Motivation: "Alle haben gelitten um mich herum, das habe ich am Anfang nicht gesehen. Ich habe nur mich gesehen", blickt er zurück. Auch für seine Freunde und Familie arbeitete er daran, kleine Schritte nach vorn zu machen, und bekam Stück für Stück die Freude wieder. "Ich kann mich noch erinnern, als ich das erste Mal mich selbständig aus dem Krankenbett aufrichten konnte, um mich in den Rollstuhl zu setzen, ins Bad zu fahren und mich selbst zu waschen und zu versorgen", erinnert sich Schindler. Er lernte, für seine kleinen Fortschritte dankbar zu sein: "Da kam für mich ein bisschen Lebensqualität zurück. Hätte man mir früher gesagt, dass das etwas mit Lebensqualität zu tun hat, das hätte ich nicht wahrhaben wollen. Da hätte ich gesagt, da geht etwas zu Ende."

Stattdessen versuchte Schindler, einen Neuanfang zu wagen. Seine Ziele von einer steilen Karriere bei der Polizei waren durch die Lähmung außer Reichweite geraten. Schindler wurde als eingeschränkt verwendungsfähig eingestuft, konnte nicht mehr in den höheren Dienst aufsteigen. Das wurmt ihn bis heute, schließlich ist für viele Führungspositionen mehr Koordination erforderlich als häufige Einsätze im Außendienst.

Entgegen der Prognosen der Ärzte schaffte es Schindler aus dem Rollstuhl, kann sich trotz seiner tauben Beine ohne Gehhilfen bewegen. Er startet in der Klasse C3, gemeinsam mit weiteren Athleten, die trotz ihrer körperlichen Einschränkungen ohne Hilfen Fahrrad fahren können. Durch das Radfahren sah er die Möglichkeit, "nicht ziellos tagtäglich in irgendeine Beamtenbeschäftigung zu gehen, sondern einen neuen Antrieb zu bekommen". Schindler richtete von 2013 an alles auf sein großes Ziel aus, die Olympischen Spiele 2021. Ein ständiger Drang, sich zu verbessern, trieb ihn an. Immer wieder raffte er sich auf, investierte mehr. Bis zu 30 Wochenstunden trainierte er vor Olympia. Die Schinderei wurde mit einer Bronzemedaille im Zeitfahren belohnt.

"Ich bin ein ganz anderer Mensch, als ich es vor meiner Behinderung war."

Eine andere Farbe als die in seinen Träumen - dennoch war Schindler zufrieden. Er wollte erst mal einen Schlussstrich unter die Jagd nach Titeln setzen, den Sport unterordnen. "Ich habe mit der Geburt unserer Tochter 2022 einen Schritt zurück gemacht und gesagt, jetzt muss die Familie die Nummer eins sein", erzählt er. Weniger Stunden auf dem Sattel, weniger Schweiß. Doch zu seiner eigenen Verblüffung war Schindler besser als je zuvor. Er hielt sich im Perspektivkader und bekam die Chance, die gedanklich schon verabschiedete Sportlerkarriere fortzuführen. Mit kürzeren, härteren Einheiten konnte er Familie und Radfahren vereinen - und feierte 2023 die größten Erfolge seiner Karriere. "Vater zu sein, und auf der anderen Seite aber so leistungsfähig wie noch nie, ist ein Geschenk gewesen", sagt er.

Dieses Jahr will er den zweiten Versuch für die Goldmedaille wagen. Dank der Titel bei EM und WM im vergangenen Jahr stehen Schindlers Chancen auf eine Nominierung für Paris gut. Bis zum Sommer Vollgas geben, danach will er zum zweiten Mal einen Schlussstrich ziehen. Seine Familie ist inzwischen auf zwei Kinder angewachsen, für sie will er am Ende des Tages noch Energie haben. Seiner Frau, die seine Karriere immer mitgetragen hat, ist er sehr dankbar: "Damals, als sie Ja gesagt hat, in guten wie in schlechten Zeiten, hat sie ja weder einen schwerbehinderten Mann geheiratet noch einen Profisportler." Auch das ist eine Lektion, die er seit der Operation gelernt hat: "Viele sagen, dass für sie ihre Familie das Wichtigste ist. Gleichzeitig ist es oft im Leben das Erste, wo man bereit ist, Opfer zu bringen, für Karriere, für finanzielle Ziele."

Neben dem Radfahren hält Schindler auch Vorträge, in denen er von seinen Erfahrungen berichtet. "Ich bin ein ganz anderer Mensch, als ich es vor meiner Behinderung war", sagt er. Schindler hat selbst erfahren, wie wichtig es sein kann, wenn andere Menschen ihr Schicksal teilen. Im Klinikum las er das erste Buch des Schauspielers Samuel Koch, der bei "Wetten, dass ..." verunglückte. An ein Zitat von Koch denkt er oft zurück: "Ich glaube nicht, dass ein Schicksalsschlag einen Sinn machen kann. Aber durch die Art und Weise, wie man damit umgeht, kann man der ganzen Sache ihren Unsinn nehmen."

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